Agrikultur: im Zug von Zürich nach Chur
01. Oktober 2019
Seit Jahren befasse ich mich mit Landwirtschaftsthemen. Nun sitze ich im Zug von Zürich nach Chur und frage mich: Wie nehme ich eigentlich die Landwirtschaft war? In der Kolumne des Büdner Bauers (Ausgabe 39) reflektiert Werner Hediger die Wahrnehmung der Landwirtschaft aus dem Fenster während einer Zugfahrt.
Seit Jahren befasse ich mich mit Landwirtschaftsthemen. Nun sitze ich im Zug von Zürich nach Chur und frage mich: Wie nehme ich eigentlich die Landwirtschaft war? Mein Blick über den Zürichsee findet kaum Spuren der Landwirtschaft; mit Ausnahme der Rebberge an der Goldküste. Das Bild ändert sich in der Linth-Ebene. Weite Wiesen und kleine Landwirtschaftsgebäude prägen den Talboden. Auf den Bauernhöfen fallen die Siloballen auf. Aber ich sehe keine Tiere. Als Kontrast dazu zeigen die Hänge ein Muster von Wald und extensiver Landwirtschaft. Wir fahren durch eine Industriezone, und dann tauchen vereinzelte Ackerkulturen auf und Hochspannungsleitungen.
Das Tal wird eng. Wir erreichen den Walensee mit seinen Tunnels und dem Blick auf die Churfirsten. Zwischen Wald und Fels erscheint auf der andern Seite Quinten. Mit seinen wenigen Häusern und Rebbergen wirkt es wie eine kultivierte Insel am schroffen Berg.
Walenstadt ist passiert, das Landschaftsbild ändert sich wieder: bewaldete Bergflanken, Wiesen am Talboden, kleine Rebberge am Fuss der Hänge. Der Graslandanteil erscheint mir hoch im nationalen Vergleich. Dann sehe ich die ersten Kühe. Also doch noch Weidewirtschaft, nicht nur intensive Tierhaltung. Doch plötzlich erscheinen Maisfelder direkt neben der Autobahn, nur noch Maisfelder. Nach Sargans wird das Tal wird weiter. Der Blick öffnet sich nach Liechtenstein, Gemüsekulturen sehe ich beidseits der Bahnlinie – doch nur kurz. Schon dominiert wieder der Ackerbau. Danach erscheinen die ersten Weinberge der Bündner Herrschaft, aber immer noch Maisfelder beidseits der Geleise.
In Landquart «entstehen moderne Arbeitsplätze». Diese haben wohl nichts mit Landwirtschaft zu tun, geht mir durch den Kopf. Weiterfahrt durch ein riesiges Bahnareal. Hier hat die Landwirtschaft keinen Platz. Zum Glück hilft die Raumplanung, Flächen offen zu halten für die Landwirtschaft und für ein abwechslungsreiches Landschaftsbild. Doch schon bald zeigt sich wieder ein neues Bild mit Ackerbau, Wiesen und Hochstammbäumen. Und schon wird das Tal wieder enger, aber die Landschaft auch vielfältiger und abwechslungsreicher mit Rebbergen, Wald, Wiesen, Maisfeldern und Kühen. Dann die Autobahn und der Rhein auf den beiden Seiten der Bahn. Wir fahren in Chur ein, und es zeigt sich nochmals ein anderes Bild der Landwirtschaft: Pferdehaltung. Doch was hat dies mit Landwirtschaft zu tun? Wer sind die Besitzer dieser Tiere, die wohl vornehmlich dem Freizeit- vergnügen dienen?
In Chur überlege ich mir: Wie habe ich nun die Landwirtschaft wahrgenommen? Eigentlich gar nicht, denn ich sah keine Bauern und Bäuerinnen, nur einzelne Landschaftselemente. Aber gerade diese vermitteln das Bild der Landwirtschaft, das wir individuell wahrnehmen, und über das wir möglicherweise urteilen. Ich habe also die Landwirtschaft in der letzten Stunde sehr wohl wahrgenommen und denke nun auch an Produkte, die sie liefert: Nahrungsmittel und prägende Landschaftselemente – kurz Agrikultur.
Dieser Beitrag erschien zeitgleich als Kolumne im «Bündner Bauer».