Projekt auf einen Blick
Im Kanton Graubünden besteht ein augenfälliger «Leerstand» – vor allem durch Unternutzung und Zweitwohnungen, die in gewissen Gemeinden über sechzig Prozent der Liegenschaften ausmachen. Insbesondere in Tourismusgebieten führt das zur Problematik der kalten Betten. Die Infrastrukturleistung bedingt eine hohe Qualität für nur wenige Tage im Jahr. Die Zweitwohnungsbesitzenden zahlen zwar die Tourismustaxen, aber keine Steuern, und leisten keinen Beitrag zu einem lebendigen Dorfleben.
Um dieser problematischen und volkswirtschaftlich prekären negativen Entwicklungsdynamik entgegenzuwirken, ist es zwingend nötig, dass sich der alpine Raum mit seiner Bau- und Wohnkultur auseinandersetzt. Die Etablierung von bezahlbaren Erstwohnungen, im Ansatz von Kostenmiete-Modellen wie Genossenschaften, ist dabei zentral – in Graubünden und generell im weiteren alpinen Raum. Solche Ansätze sind bisher nicht erforscht und kaum realisiert.
Das Forschungsprojekt Cooperativa Encarden hat zum Ziel, diesen IST-Zustand mit der Realisierung einer neuen Wohnraumentwicklung am Beispiel eines realen Grundstücks in der Surselva zu ändern. Das Besondere dabei ist: Die Familie Bundi stellt dem Forschungsteam der FH Graubünden hierfür ihr Grundstück zur Verfügung. Ihre Idee: Den beschränkten Wohnraum ihres Elternhauses gemeinsam mit interessierten Menschen in eine Wohnbaugenossenschaft zu überführen. Die Cooperativa Encarden soll attraktiven und bezahlbaren Wohnraum für Sagogn schaffen.
Projekt
Cooperativa EncardenLead
IBAR - Institut für Bauen im alpinen Raum Mehr über IBAR - Institut für Bauen im alpinen RaumBeteiligte
Fachhochschule Graubünden
Wirtschaftspartner Familie Bundi
Reallabor Surselva
Sophie Frank
Claudio Galli
Marco OertleForschungsfelder
Siedlungsplanung und Ortsbildentwicklung Mehr über Siedlungsplanung und Ortsbildentwicklung Raumplanung Mehr über RaumplanungAuftrag/Finanzierung
Drittmittel finanziert / Forschungsmandat
Ausgangslage
Die Schweiz teilt sich zusehends in strukturstarke und strukturschwache Regionen auf. Diese regionalräumlichen Unterschiede äussern sich in Form von zunehmend unterschiedlichen Lebensbedingungen sowie ungleichen wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Die häufigste Reaktion seitens der strukturschwachen Gemeinden und Regionen ist eine Fokussierung auf Wachstum. Die belastende Strukturschwäche wird durch Baukonjunktur am Leben gehalten, was zwar kurzfristig hilft, das Problem langfristig jedoch verschärft und zu weiteren tiefgreifenden volkswirtschaftlichen Problemen führt.
Die «Zweiteilung der Schweiz» schlägt sich auch in der Leerwohnungs- respektive Zweitwohnungsstatistik nieder und macht die Differenz zwischen strukturschwachen und strukturstarken Regionen geografisch sichtbar. Entlang der Wirtschaftsachse (Metropolitanraum) Zürich – Genf (inklusive Zug und Basel) ist die Leerstandsquote unterdurchschnittlich und sehr tief. Der Wohnraum ist sehr knapp und die Nachfrage hoch. Im Rest der Schweiz besteht ein überdurchschnittlich hoher Leerwohnungsanteil.
Dieser Leerstand lässt sich grob zwei unterschiedlichen Kategorien zuordnen:
- Einem «richtigen» physischen Leerstand, durch den aufgrund Binnenwanderung und Mietpreisdumping ganze Dorfkerne verwaisen. Dies führt zum Verlust von Interaktion, Baukultur und Identität – man spricht hier auch von «Huttwilisierung der Schweiz», insbesondere im periurbanen Mittelland.
- Einem «Leerstand» durch Unternutzung, bspw. bei Zweitwohnungen. Dies ist insbesondere in Tourismusgebieten der Fall und führt zur bekannten Problematik der kalten Betten.
Brain Drain und kalte Betten
Im Kanton Graubünden besteht ein augenfälliger «Leerstand», vor allem durch Unternutzung und Zweitwohnungen, die in gewissen Gemeinden über sechzig Prozent der Liegenschaften ausmachen. Gesetzlich erlaubt sind nur zwanzig Prozent. Insbesondere in den Tourismusgebieten führt der Leerstand zur Problematik der kalten Betten. Die Infrastrukturleistung bedingt eine hohe Qualität für nur wenige Tage im Jahr – dies bei sehr hohen ganzjährigen Kosten und bei gleichzeitig sehr geringer Wertschöpfung durch die Zweitwohnungsbesitzenden. Sie zahlen zwar die Tourismustaxen, aber keine Steuern, und leisten keinen Beitrag zu einem lebendigen Dorfleben.
Die Eigentümerinnen und Eigentümer der Zweitwohnungen haben ausserdem eigene Ansprüche in Bezug auf einen hohen, teuren Lebensstandard, was sich auf das Preisniveau in den Dörfern auswirkt. Läden mit einem Grundversorgungsangebot für die Einheimischen werden verdrängt, der Wohnraum wird unerschwinglich. Beide Situationen führen zunehmend zu einem negativen finanziellen und sozialen Strukturwandel. Die Auswertungen statistischer Gemeindedaten bestätigen dies: In Gemeinden mit einem hohen Leerstand respektive Zweitwohnungsanteil nimmt die Steuerkraft – selbst bei einer Bevölkerungszunahme – aufgrund der Abwanderung von jungen und gut ausgebildeten Menschen ab.
Die dringend benötigten und bezahlbaren Erstwohnungen fehlen. Und junge Menschen, die bereit wären, in ihre Dörfer zurückzukehren und dort Familien zu gründen, finden keinen bezahlbaren Wohnraum und bleiben aus. So auch Dorfleben, Identität und Steuereinnahmen.
Projektziel
Um dieser problematischen und volkswirtschaftlich prekären negativen Entwicklungsdynamik entgegenzuwirken, ist es zwingend nötig, dass sich der alpine Raum mit seiner Bau- und Wohnkultur auseinandersetzt. Dabei geht es nicht um einen Baustopp, sondern es geht darum, in nachhaltige Projekte zu investieren. Projekte, die nicht nur im Fokus von Wachstum durch Tourismus, Anlagekapital oder Renditenmaximierung stehen, sondern auch im Interesse einer zukunftsfähigen Gemeinde- und Regionalentwicklung sowie alternativer Wohnraumstrategien.
Die Etablierung von bezahlbaren Erstwohnungen, im Ansatz von Kostenmiete-Modellen wie Genossenschaften, ist dabei zentral – in Graubünden und ganz generell auch im weiteren alpinen Raum. Solche Ansätze sind bisher nicht erforscht und kaum realisiert. Das Forschungsprojekt Cooperativa Encarden hat zum Ziel, diesen Ist-Zustand mit der Realisierung einer neuen Wohnraumentwicklung am Beispiel eines realen Grundstücks in der Surselva zu ändern. Das Besondere dabei: Die Familie Bundi stellt dem Forschungsteam der FH Graubünden hierfür ihr Grundstück zur Verfügung.
Anhand des Projekts soll aufgezeigt werden, wie in Bottom-up-Prozessen unter Einbezug der Bevölkerung und der Gemeinde die Etablierung von bezahlbaren Erstwohnungen realisiert werden kann. Dies geschieht im Ansatz mit Modellen der Kostenmiete – bspw. Genossenschaften – im Kanton Graubünden und ganz generell auch im weiteren alpinen Raum. Dabei geht es nicht darum, den Dörfern und Regionen im Kanton Graubünden einfach städtische Genossenschaftsmodelle «überzustülpen» – es geht explizit darum, eigene Modelle zu entwickeln, die im Kontext zur alpinen und ländlichen Kultur stehen und sich aus dieser Kultur herausformen.
Umsetzung
Hier entstehen keine Zweitwohnungen!
Preiswerter Wohnraum für die Bevölkerung des Berggebiets wird in vielen Gemeinden in Graubünden zunehmend knapp. Auch in der Surselva führt der steigende Zweitwohnungsanteil zu einem immer weniger bezahlbaren Lebensraum. Der Besitz von Immobilien und Boden bedeutet für die Familie Bundi deshalb auch eine grosse Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit. Ihre Idee: Den beschränkten Wohnraum des Elternhauses gemeinsam mit interessierten Menschen in eine Wohnbaugenossenschaft zu überführen. Die Cooperativa Encarden soll attraktiven und bezahlbaren Wohnraum für Sagogn schaffen.
Gemeinsam mit der Gemeinde und der Bevölkerung sollen in Sagogn von Beginn an ein neuer Lebensraum gestaltet und ein Mehrwert für alle geschaffen werden. Das Anliegen und die Projektskizze der Familie Bundi verkörpern einen alternativen, nachhaltigen Konzeptansatz und eine mögliche Handlungsoption zur Lösung einer besorgniserregenden Entwicklung im alpinen Raum.
Auf Basis dieses Ziels der Wirtschaftspartner erfolgt die Erarbeitung einer alternativen Wohnraumstrategie samt Gründung und Realisierung einer Genossenschaft. Forschungsrelevant dabei ist, dass nicht der architektonische Entwurf, sondern der Prozess als solcher im Zentrum steht und das Ergebnis zunächst völlig offen ist. Diese «Offenheit» muss ausgehalten werden, was herausfordernd ist. In erster Linie geht es darum, Menschen zu «Beteiligten des Dorfes und des Projekts» zu machen – unabhängig davon, ob sie dort wohnen oder nicht.
Partizipation trägt zur Identität und Siedlungsqualität bei, weil vielfältige Vorschläge und Ideen in solche Vorhaben einfliessen können. Zudem wird die Planung dem kritischen Blick potenzieller Nutzerinnen und Nutzer sowie Betroffener ausgesetzt. Diese Methode der iterativen und integrierten Siedlungsentwicklung ist zeitintensiv und aufwändig, doch sie lohnt sich. Sie ist eine Investition in die Zukunft und in ein Dorf mit Zukunft: Sie fördert die Identifikation der bisherigen und künftigen Nutzerinnen und Nutzer mit dem Ort und macht sie zu «Produzentinnen und Produzenten des Raums». Der architektonische Entwurf erfolgt im Anschluss daran und im Zuge dieser «ausgehandelten» Definition des Projekts. Die Expertinnen und Experten der FHGR moderieren diesen Prozess und übersetzen die im Beteiligungsformat erzielten Ergebnisse in die wissenschaftliche und fachliche Umsetzung.
Resultate
Die FH Graubünden hat den Auftrag, mit angewandter Forschung Lösungen zu den Herausforderungen im alpinen Raum und für die Region zu entwickeln. Für die Skalierbarkeit ist dabei eine hohe Transparenz der Forschungsmethode, des Forschungsprozesses und der Ergebnisse zentral. Entsprechend wird der Prozess, die daraus resultierenden Ergebnisse und die Präsentationen hier dokumentiert und zur Verfügung gestellt. Das vorgestellte Forschungsprojekt Cooperativa Encarden hat Pioniercharakter. Mit einem breit getragenen Pionierprojekt wie diesem können wir der gesamten Region einen Impuls geben.
Team
Wirtschaftspartner Familie Bundi
Reallabor Surselva
Sophie Frank
Studentische Hilfskräfte:
- Claudio Galli
- Marco Oertle