Wer rastet, der rostet
Mit 66 Jahren fängt bekanntlich das Leben an, zumindest wenn man Udo Jürgens glauben darf. Trotzdem wird der Prozess des Älterwerdens oft mit Verlust und Belastung in Verbindung gebracht. Der Beitrag beleuchtet, weshalb das so ist und warum es wichtig ist, das Bild des Älterwerdens in der Gesellschaft positiv zu gestalten und das Potenzial älterer Menschen anzuerkennen und zu nutzen.
Text: Seraina Zinsli / Bilder: BeweGR GmbH
Das erste graue Haar, Falten im Gesicht und ein spürbares Nachlassen der Beweglichkeit – ob wir es wollen oder nicht: Früher oder später trifft es jede und jeden von uns und die Zeichen der Zeit kommen zum Vorschein. Zum einen sehen wir Menschen uns mit zunehmendem Alter mit einem physischen Abbau konfrontiert. Denn mit dem Alter nimmt die Muskelkraft ab, der Appetit geht zurück, die Koordination und die kognitive Leistungsfähigkeit lassen nach. Zum anderen ist man im sozialen Umfeld mit Verlusten konfrontiert, beispielsweise durch den Tod von Freundinnen und Freunden oder Familienmitgliedern. Deshalb kann die Konfrontation mit dem eigenen Älterwerden schwierig sein. «Verlust ist im Zusammenhang mit dem Älterwerden das falsche Wort», sagt Valeria Ciocco von der Fachstelle Gesundheitsförderung beim Gesundheitsamt Graubünden. «Vielmehr sind es Veränderungen. Es gibt im Zuge des Älterwerdens nicht nur Verluste, sondern auch positive Veränderungen – beispielsweise hat man im Alter mehr Zeit, ist gelassener und besitzt viel mehr Lebenserfahrung.»
Diese positiven Aspekte fallen ins Gewicht. Wie Gesundheitsbefragungen zeigen, spricht die Bevölkerungsgruppe zwischen 65 und 75 Jahren von einer so grossen Lebensqualität wie keine andere. Die subjektive Lebensqualität ist bei dieser Altersgruppe gar am höchsten. Erklären lasse sich dieses Phänomen durch die innere Haltung, so Ciocco. «Gesundheit bedeutet nicht nur, nicht krank zu sein. Sie hat auch damit zu tun, wie zufrieden man ist, wie man seine Fähigkeiten im Alltag integrieren kann und ob man einen Sinn im Leben sieht.» Mit anderen Worten: Die innere Einstellung ist zentral. Wenn man mit dem Alter ausschliesslich negative Dinge verbinde, sei es schwierig, auf andere Menschen zuzugehen, sich zu engagieren und offen für Neues zu sein – laut Ciocco ein Problem der heutigen Gesellschaft. «Wenn die Medien von älteren Menschen berichten und dabei das Bild einer alten, gebrechlichen Frau zeigen statt das einer Frau, die mitten im Leben steht und selbstbestimmt ist, dann ist das Altersbild defizitär geprägt.» Heutzutage sei dies grösstenteils der Fall und eine mögliche Erklärung dafür, weshalb viele Menschen Angst vor dem Altern haben oder sich zumindest Sorgen diesbezüglich machen.
Potenzial anzapfen
Dass die ältere Bevölkerungsgruppe wegen ihres «defizitären Altersbildes» eher negativ angesehen wird, ist ein Problem. Denn Fakt ist, dass der Anteil an älteren Menschen an der Gesamtgesellschaft immer grösser wird. Zurückzuführen ist das auf den demografischen Wandel. Laut Bundesamt für Statistik liegt die heutige Lebenserwartung bei Frauen in der Schweiz bei rund 85 Jahren. Bei Männern sind es etwa 82 Jahre. Noch um 1900 herum sah das anders aus. Damals wurden die Menschen weit weniger alt: Frauen im Durchschnitt 49 Jahre und Männer nur 46 Jahre. Mit der steigenden Lebenserwartung altert die Gesellschaft. Aber: Nicht nur die Lebensjahre nehmen zu, sondern auch der Anteil an «gesunden» Jahren, wie Ciocco betont. So steige nicht nur die Lebenserwartung, sondern auch die Lebenserwartung bei guter Gesundheit. «Dadurch können ältere Menschen länger aktiv sein, sich länger einbringen und engagieren.» Deshalb versucht das Gesundheitsamt nun, dem negativ behafteten Bild der älteren Bevölkerungsgruppe entgegenzuwirken. Denn laut Ciocco sei es wichtig, dass man in Bezug auf Seniorinnen und Senioren nicht nur Kosten sehe, sondern primär ihr Potenzial und ihre Ressourcen. «Ohne die Bevölkerungsgruppe zwischen 65 und 75 Jahren hätten wir im Gesundheitswesen, insbesondere in der Betreuung, noch viel höhere Kosten und ganz andere Herausforderungen.» Wichtig sei also, dass dieses Potenzial angezapft werde – insbesondere in Zukunft.
Für eine lebendige Gemeinschaft
Um – auch im Alter – gesund zu sein und zu bleiben, seien laut der Expertin nicht nur die physischen Gegebenheiten – wie gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung – wichtig, sondern auch psychische Faktoren. «Es heisst ja: Einsam ist das neue Rauchen. Einsamkeit ist potenziell tödlich. Deshalb sollte man unbedingt Beziehungen pflegen, sich engagieren, offen sein und Neues entdecken, statt desinteressiert oder aus falschem Stolz daheim im Sessel zu sitzen.»
Hier haben Gemeinden eine Schlüsselrolle inne. Sie tragen wesentlich dazu bei, dass ihre Bevölkerung gesund aufwächst, im Alltag gesundheitsfördernde Entscheide trifft und dadurch möglichst lange selbstbestimmt leben kann. Es gehe darum, politische und organisatorische Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Gesundheitsförderung im Alter und Teilhabe am Gemeindealltag berücksichtigt werden, so Ciocco. So setzt das Projekt «Plus 65» des Zentrums für Verwaltungsmanagement der FH Graubünden bei den Gemeinden an. Das entwickelte Methodenset unterstützt behördliche und kommunale Akteurinnen und Akteure bei der Erarbeitung von Leitbildern, Konzepten oder Strategien für ihre «alternde Gemeinde». Und im Rahmen des Projekts «Gesundheitsförderung und Prävention im Alter», das in Zusammenarbeit mit der kantonalen Fachstelle Gesundheitsförderung erarbeitet wurde, sind ein Leitfaden und ein Schulungsangebot entstanden, um Behörden und kommunale Akteurinnen und Akteure für diese Aufgabe zu sensibilisieren und zu stärken. Damit aus Ideen, engagierten Personen und vorhandenen Ressourcen konkrete Aktivitäten – wie beispielsweise Dorffeste, Spiel- und Tanznachmittage sowie Generationenkaffees – entstehen, unterstützen Valeria Ciocco und ihr Team Gemeinden mit der Dienstleistung «Lokal vernetzt älter werden». Fachpersonen begleiten auf Anfrage lokale Projektleitende und kommunale Initiativen als Sparringpartnerin der Projektumsetzung.
Rüstzeug aus der Forschung
Laut Valeria Ciocco sind angewandte Forschungsprojekte hilfreich, wenn sie die Gemeinden bestärken oder ihnen methodisches Rüstzeug an die Hand geben. Besonders wichtig sei dabei, dass die Einbindung der älteren Bevölkerungsgruppe in die Entwicklung der Gemeinde zum Selbstverständnis werde. Gegenseitig anerkanntes Engagement und generationenübergreifendes Zusammenleben wirken sich letztlich positiv auf die Gesundheit aller aus. Die Gesellschaft profitiere somit genauso von älteren Menschen wie umgekehrt, «beispielsweise in Form von Lebenserfahrung, die weitergegeben wird, und Know-how-Vermittlung – oder ganz einfach, wenn Grosseltern für ihre Enkelkinder sorgen. Die Integration von älteren Bevölkerungsgruppen ist eine Horizonterweiterung für alle.»
Beitrag von
Seraina Zinsli, Redaktionsleiterin, Projektleiterin