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«Qualität zeigt sich erst im Moment des Sturms»
«Qualität zeigt sich erst im Moment des Sturms»

«Qualität zeigt sich erst im Moment des Sturms»

Er könnte es sich seit gut anderthalb Jahren in seiner wohlverdienten Pensionszeit gut gehen lassen. Doch Jürg Kessler hatte sich vor zwei Jahren bereit erklärt, die Geschicke der Fachhochschule Graubünden über seine Pensionierung hinaus zu leiten – bis Ende 2024. Dann übergibt er sein Amt in neue Hände. Im Gespräch blickt Jürg Kessler auf seine über 20-jährige Amtszeit als Rektor zurück und erklärt, worauf er in schwierigen Zeiten baut und warum er die Zukunftsfähigkeit der Hochschule als gesichert sieht.

Interview: Seraina Zinsli / Bild: FH Graubünden

Seit 2003 sind Sie Rektor der FH Graubünden. Wenn Sie sich an Ihren ersten Tag an der FH Graubünden erinnern, wie war das damals? 

Es war der 1. September 2003. Damals habe ich um genau 11.30 Uhr als Mitglied der Geschäftsleitung und Gesamtprojektleiter der 5. Ausbauetappe das Dock E am Flughafen Zürich eröffnet. Um Punkt 15 Uhr fand ich mich im Büro des Präsidenten der damaligen Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur (HTW Chur), Dieter Heller, ein. Ich bin also von der Grossbaustelle – ich hatte noch den Geruch von frischem Beton in der Nase – zur FH Graubünden gekommen und habe mich auf meine neue Aufgabe gefreut: am künftigen beruflichen Erfolg junger Menschen mitzuwirken.

Wie war die Hochschule damals?

Die HTW Chur war damals eine Teilhochschule der Fachhochschule Ostschweiz und stark mit den drei Hochschulen auf dem Kantonsgebiet St. Gallen verbunden. Als ich Rektor wurde, gab es die HTW Chur seit gut zwei Jahren in ihrer damaligen Form. Sie war aus einer Fusion der Hochschule für Wirtschaft und Tourismus und Hochschule für Technik und Architektur entstanden. Diese Fusion war 2003 noch immer spürbar – die Zusammenführung zu einer gemeinsamen Hochschule war emotional noch nicht abgeschlossen. 

Würden Sie sagen, es war ein schwieriger Zeitpunkt, um beruflich als Rektor der neuen Hochschule «einzusteigen»?

«Schwierig» ist das falsche Wort. Es war eine grosse, aber motivierende Herausforderung. Einerseits wegen der noch frischen und emotionalen Fusionierung – und andererseits, weil es eine Phase war, die viel Neues zugelassen hat. 

Seither hat sich einiges getan. Was war in all Ihren Jahren als Rektor Ihr grösstes Highlight?

Das persönlichste Highlight war ganz klar der 20. September 2015 – der Tag, an dem ich unserer Tochter Lorella ihr Diplom als «Bachelor of Science in Betriebsökonomie» überreichen durfte. Abgesehen von diesem sehr persönlichen und speziellen Moment gehören die Diplomfeiern im Allgemeinen jedes Jahr zu meinen Höhepunkten. Für mich ist eine Diplomfeier vergleichbar mit dem Applaus für erfolgreiche Künstlerinnen und Künstler – die Anerkennung der eigenen Arbeit, die sich ganz deutlich in den glücklichen Augen der Absolventinnen und Absolventen widerspiegelt.

Ein spezieller Tag – der Tag, an dem Jürg Kessler seiner Tochter Lorella ihr Diplom der FH Graubünden überreicht hat.
Ein spezieller Tag – der Tag, an dem Jürg Kessler seiner Tochter Lorella ihr Diplom der FH Graubünden überreicht hat.

Und institutionell gesehen?

Das war der 1. Januar 2020, als «ünschi Hochschual» die achte öffentlich-rechtliche Fachhochschule der Schweiz und somit selbstständig wurde.

Können Sie sich an den Moment erinnern, als die Nachricht kam: «Es hat geklappt, wir haben die Selbstständigkeit erreicht»?

Das weiss ich noch ganz genau. Das war am 14. Dezember 2018. Zugegeben: Mein Adrenalinspiegel war an jenem Tag schon etwas höher als gewohnt (lacht), denn der damalige Bundesrat Johann Schneider-Ammann hatte mich angerufen und mir die frohe Botschaft höchstpersönlich übermittelt. Er hatte mir seinerzeit versprochen, dass er das Thema in seiner letzten Sitzung als Bundesrat auf die Agenda bringen werde. Er hat Wort gehalten und mich gleich darauf kontaktiert.

Neben diesen schönen Momenten gab es sicher auch herausfordernde Zeiten. In solchen «stürmischen» Zeiten sind Sie als Rektor permanentem Druck ausgesetzt. Wie gehen Sie damit um?

Es ist wichtig, ein starkes Fundament zu haben. Bei mir ist das zum Beispiel die Familie, meine Frau Ulrica, unsere Tochter Lorella und unser Sohn Räto. Sie sind meine «Ladestation» und haben mir zu jeder Zeit das Gefühl gegeben: «Du schaffst das.» Ausserdem ist es wichtig, Energie von Kolleginnen und Kollegen zu erhalten, speziell in Phasen, in denen der eigene Akku nicht so voll ist. Mit dem Druck, den diese Funktion mit sich bringt, kann ich gut umgehen, da ich grosses Vertrauen in das FHGR-Team habe. Ich kann mich komplett auf das Team verlassen und werde immer unterstützt.

Begegnungen und der persönliche Austausch sind Ihnen also auch an der Fachhochschule besonders wichtig.

Ich erinnere mich gerne an ein Zitat von Francesco de Sanctis, das mir ein Professor in Baugeologie mit auf den Weg gegeben hat: «Prima di essere ingegneri voi siete uomini.» («Bevor ihr Ingenieure seid, seid ihr vor allem Menschen.») Als Ingenieur kann man zwar Pläne erstellen und ein Projekt leiten, doch Erfolg hat man erst, wenn man auf Arbeiterinnen und Arbeiter zählen kann, die das Geplante auch umsetzen. Denn Erfolg hat man nur mit einem starken Team, das einen unterstützt. Das gilt für jede Art von Führungsfunktion. Allein kann man nicht viel erreichen, es braucht Kolleginnen und Kollegen, wie ich dies an der FH Graubünden täglich erleben und spüren darf.

Sie sagen immer, ein Schiff durch den Sturm zu steuern, das motiviere Sie, das mache den Job spannend. Warum sehen Sie das so?

Es verbildlicht, was ich zuvor erwähnt habe. Kapitän sein kann ich nur mit einer starken Mannschaft. Ausserdem zeigt sich Qualität erst im Moment des Sturms. Ein Schiff bei schönem Wetter zu steuern ist einfach – bei Sturm ist es schwieriger. Wenn ich das Schiff wieder in ruhige Gewässer gelenkt habe, freue ich mich umso mehr über diesen Erfolg. Die Herausforderung, in einer schwierigen Phase Leistung zu bringen, motiviert mich. 

Braucht das nicht unglaublich viel Energie?

Das ist so und es kann viel Substanz kosten – insbesondere auch, weil man es in schwierigen Zeiten teilweise mit persönlichen Anfeindungen oder Unverständnis zu tun bekommt. Hier ist es wichtig, «Ladestationen» im persönlichen Umfeld zu haben. Besonders hilfreich in solchen Momenten sind auch positive Impulse von Kolleginnen und Kollegen. An diesen orientiere ich mich in solchen Situationen. 

Wie hat Sie das Hochschulumfeld trotz allem jung gehalten?

Da gibt es mehrere Aspekte: Zum einen ist es das dynamische Umfeld, zum anderen die Arbeit mit jungen Menschen und Mitarbeitenden, die zukunftsorientiert sind und sich für kontinuierliche Weiterentwicklung einsetzen. Das hält im Denken jung.

Unter Ihrer Leitung wurden die Weichen für den Aufbau des neuen Fachbereichs «Gesundheit» gestellt. Wie wichtig war es Ihnen, dieses Vorhaben auf den Weg zu bringen?

Einerseits verstehen wir dieses Vorhaben als Auftrag aus dem Parlament, andererseits denke ich, dass wir dem Kanton Graubünden damit viel zurückgeben können. Beispielsweise können wir dadurch unseren Beitrag zur Reduktion des Fachkräftemangels im Gesundheitsbereich leisten. Als Vorstandsmitglied der Flury Stiftung, die sich der integrierten Gesundheitsversorgung im Prättigau widmet, messe ich dem eine hohe Bedeutung bei. Mit «integriert» sind hier auch der Aufbau und die Weiterentwicklung der sozialen Arbeit gemeint. Nur mit solchen Entwicklungen kann die integrierte Versorgung von dezentralen Räumen sichergestellt werden – und nur so lässt sich die Attraktivität des Kantons Graubünden auch ausserhalb der Zentren langfristig bewahren. Ausserdem: Auch ich konnte von einer Entwicklung profitieren, die vor meiner Zeit eingefädelt wurde: dem dazumal neuen Studiengang Tourismus. Insofern finde ich es «hübsch», dass auch ich meinem Nachfolger den Weg zu einem neuen Fachbereich und einem neuen Studiengang ebnen kann.

Wenn Sie 2025 die Leitung der Hochschule in neue Hände übergeben – an den heutigen Rektor der Pädagogischen Hochschule Graubünden, Gian Paolo Curcio –, mit welchem Gefühl tun Sie das?

Ich schätze es sehr, dass ich mein Amt und meine Verantwortung an Gian Paolo Curcio übergeben darf. Ich habe ein sicheres Gefühl dabei. Nicht zuletzt, weil ich weiss, dass die FH Graubünden – mit allen Forschenden, Lehrenden und Mitarbeitenden – ein starkes Team ist, das an der Vision einer zukunftsfähigen, agilen und erfolgreichen Fachhochschule weiterarbeitet.

Wie bereiten Sie sich auf den Moment der «Übergabe» vor?

Auf der einen Seite arbeite ich so, als wenn ich noch zehn weitere Jahre für «ünschi Fachhochschual» arbeiten würde. Das ist wichtig, um die Zukunftsfähigkeit der Hochschule zu sichern. Aber als Person stelle ich mich jetzt schon auf eine neue Phase ein. Diese wird sowohl für mich als auch für meine Frau und die ganze Familie eine neue Erfahrung sein. Wir diskutieren bereits seit etwa einem Jahr bewusst über die anstehende Veränderung und planen gemeinsam den Anfang dieser neuen Lebensphase. Wichtig ist, dass ich nicht mit einer «Vollbremsung» lande, das wäre nicht gesund. Deshalb setze ich mich bewusst mit dem kommenden Lebensabschnitt auseinander. 

Was ist für diesen neuen Abschnitt geplant?

Ich werde viel Neues entdecken und anpacken – und Bestehendes auch künftig weiterführen. So bin ich beispielsweise nebenamtlicher Richter am Regionalgericht Imboden, Präsident des Forums Prättigau/Davos und Vize-Präsident des Wissenschaftsverbunds Academia Raetica. Zudem bin ich seit Kurzem Mitglied der Akkreditierungs- und Zertifizierungskommission der Foundation for International Business Administration Accreditation (FIBAA). Folgendes Zitat von Ludwig Hasler ist daher besonders passend: «Ein Alter, das noch was vorhat.» Für mich persönlich heisst das, weiterhin Dinge zu tun, die in der Zukunft ihre Wirkung entfalten. Wenn es also Möglichkeiten gibt, mein Wissen und meine Erfahrungen in irgendeiner Form weiterzugeben, dann mache ich das. Trotzdem muss ich aufpassen, dass es nicht zu viel wird. Letztlich will ich die Zeit, die auf mich zukommt, vor allem auf persönlicher Ebene geniessen. Die Partnerschaft mit meiner Frau Ulrica besteht bereits seit 50 Jahren: Wir waren knapp 16 bzw. 17 Jahre «alt», als wir zueinander fanden. Also wollen wir die freiwerdende Zeit vor allem auch gemeinsam geniessen.

Podcast «Campus Tät-a-Tät»

Podcast «Campus Tät-a-Tät»

Im Podcast «Campus Tät-a-Tät» nehmen wir euch auf eine Reise hinter die Kulissen der FH Graubünden. In jeder Episode werden unterschiedliche Bereiche der Hochschule beleuchtet, spannende Geschichten erzählt und Hintergründe aufgezeigt. Lernt die Menschen kennen, die die FH Graubünden so einzigartig machen und lasst euch für eine neue Seite der Bündner Hochschule begeistern!

In der ersten Folge verrät Rektor Jürg Kessler, warum Notizen aus seiner Studienzeit einen ganz besonderen Platz in seinem Büro bekommen haben. Ein sympathisches Gespräch mit einigen ganz persönlichen Einblicken.

Beitrag von

Seraina Zinsli, Redaktionsleiterin, Projektleiterin Hochschulkommunikation