Das Leben zwischen Bestzeit und Gesundheit
Sport hält in erster Linie fit und gesund. Doch Spitzensport bringt Athletinnen und Athleten immer wieder an ihre körperlichen und psychischen Grenzen – manchmal sogar darüber hinaus. Wie gehen Spitzensportlerinnen und Spitzensportler damit um? Bob-Pilot und Mobile-Robotics-Student Martin Kranz und die ehemalige Skeleton-Athletin und Sport-Management-Absolventin Marina Gilardoni sprechen über die Belastung im Spitzensport, mögliche gesundheitliche Konsequenzen und ihren persönlichen «Plan B».
Text: Ralph Kohler, Nicole Reifler-Steiner / Bilder: International Bobsleigh & Skeleton Federation, Michael Zanghellini
Spitzensport belastet und beansprucht den Körper enorm. Da stellt sich die Frage: Professionell Leistungssport betreiben und gesund leben, geht das gleichzeitig?
Martin Kranz: Es ist bekannt, dass Spitzensport nicht die gesündeste Variante des Sports ist. Der Körper muss immer Bestleistungen bringen, um auf Topniveau mitzuhalten. Die Folgen treten oft erst nach längerer Zeit zutage.
Marina Gilardoni: Wer im Spitzensport tätig ist, kann seine psychische und physische Verfassung gut einschätzen. Um im Sport an der Spitze zu stehen, müssen die Grenzen zwar immer wieder neu ausgelotet werden, was mit einer gewissen Abnutzung des Körpers verbunden ist. Doch entscheidet man sich für diesen Weg, ist man sich dessen sehr wohl bewusst. Ausserdem unterzieht man sich ständigen Kontrollen und steht unter professioneller Aufsicht. Deshalb würde ich nicht sagen, dass Spitzensport ungesund ist.
Athletinnen und Athleten erleben neben der körperlichen Belastung auch einen hohen Trainings- und Wettkampfdruck. Wie gehen Sie mit solchen mentalen Stressfaktoren um?
Marina Gilardoni: Ich habe früh die Zusammenarbeit mit einem Mentaltrainer gesucht. Er gab mir Tipps und Übungen mit auf den Weg, die mich in der Balance hielten, und wir tauschten uns oft aus. Das half mir sehr, besser mit mentalen Herausforderungen umzugehen.
Martin Kranz: Bei mir war es dasselbe. Viele Athletinnen und Athleten setzen auf Mentaltraining, um im Wettkampf die volle Leistung abrufen zu können. Auch ich habe inzwischen meinen eigenen Ablauf vor jedem Wettkampf, um voll in den «Tunnelblick» zu kommen.
Neben Ihrer Tätigkeit für den Spitzensport haben Sie an der FH Graubünden studiert oder tun dies nach wie vor. Hand aufs Herz: Wo lag bzw. liegt Ihre Priorität?
Martin Kranz: Meine Priorität ist der Spitzensport. Leider kann man in einer Randsportart wie Bobfahren nicht vom Sport allein leben. Deshalb ist es wichtig, sich auch beruflich weiterzuentwickeln. Mit einem Studium kann ich mich nach dem Sport vollkommen auf meine berufliche Karriere fokussieren. So wird mein Plan B wohl zum vermeintlichen Plan A.
Marina Gilardoni: Meine erste Priorität war ebenfalls der Sport, da gab es nie Zweifel. Wenn ich das Studium nicht neben meiner Sportkarriere hätte absolvieren können, hätte ich nicht studiert.
Wie haben Sie Wettkampf, Training und Studium unter einen Hut gebracht?
Marina Gilardoni: Das frage ich mich heute manchmal auch. Es war eine herausfordernde Zeit, vor allem zu Beginn des Studiums. Ich «jonglierte» in verschiedenen Welten: Spitzensport mit sechs Trainingseinheiten pro Woche, das Studium sowie ein 40-Prozent-Pensum als kaufmännische Angestellte in einem Fahrradgeschäft. Ich verfüge zum Glück über gute Planungs- und Organisationskompetenzen und hatte auch hilfsbereite Mitstudierende (danke, Elena und Luana!). So ging am Schluss alles auf.
Martin Kranz: Ich trainiere zurzeit sechsmal pro Woche mit meinem Team. Da die Wettkämpfe im Winter stattfinden, kann ich mich von Ende März bis Anfang Oktober auf das Studium konzentrieren. Im Winter ist das allerdings schwieriger. Wir sind im Schnitt 14 Wochen unterwegs und trainieren in dieser Zeit zweimal am Tag: Wir absolvieren jeweils ein Training auf der Bobbahn und eines im Kraftraum oder auf der Laufbahn. Viel Zeit für das Studium bleibt da nicht und die Energie ist nach den Trainings meist aufgebraucht.
Könnte man sagen, dass das Studium Ihr «geistiger Ausgleich» zum Sport war bzw. ist?
Marina Gilardoni: Absolut! Das Sport-Management-Studium war für mich tatsächlich ein geistiger Ausgleich. Das hatte ich so gar nicht erwartet. Ich kann mich gut erinnern, zwischen den WM-Läufen für die anstehenden VWL-Prüfungen gelernt zu haben. Mein Trainer fand das damals amüsant und meinte im Nachhinein, dass es für den Gewinn der Silbermedaille am Folgetag sogar förderlich gewesen sein könnte.
Martin Kranz: Manchmal ist es angenehm, sich nicht zu 100 Prozent um den Sport zu kümmern und sich zur Abwechslung mit etwas anderem zu beschäftigen. Deshalb betrachte ich mein Studium durchaus als geistigen Ausgleich, der mir hilft, Energien für den Sport zu sammeln.
Im Sport – besonders im Spitzensport – besteht immer ein gewisses Verletzungsrisiko. Wie gehen Sie damit um?
Martin Kranz: Das Risiko, sich zu verletzen, besteht immer. Wichtig ist deshalb, stets voll konzentriert zu sein. Im Bobsport werden Geschwindigkeiten von über 140 km/h erreicht. Ein Fahrfehler bei dieser Geschwindigkeit kann bös enden. Mein Sportverband achtet daher sehr genau auf meine Gesundheit. Er unterstützt mich mit einem Physiotherapeuten und einem professionellen Trainerstab, die mich betreuen.
Marina Gilardoni: Das Risiko ist bis zu einem gewissen Grad ein Teil des Spitzensports, im Skeleton sowieso. Wäre ich nicht bereit gewesen, Risiken einzugehen, wäre ich nie so weit gekommen. Während meiner Karriere wurde die Gefahr eines frühzeitigen Rücktritts aufgrund von Verletzungen immer wieder thematisiert. Mithilfe von gezielten Tests und Vorsorgemassnahmen wurde versucht, dieses Risiko zu minimieren – dennoch kann man ein frühzeitiges Karriere-Aus aufgrund von Verletzungspech nie ganz ausschliessen. Wie wichtig in diesem Zusammenhang Aus- und Weiterbildungen sind, wurde vom Verband zwar betont, aber selten mit konkreten Massnahmen vorangetrieben. Das will ich in meiner heutigen Funktion als Chefin Leistungssport beim Verband Swiss Sliding ändern und die Athletinnen und Athleten dazu ermutigen, neben dem Spitzensport zu studieren.
Mussten Sie wegen einer Verletzung schon einmal pausieren?
Marina Gilardoni: Glücklicherweise konnte ich den Skeleton-Sport lange verletzungsfrei ausüben. Nach der Saison 2015/2016 hatte ich Bandscheibenprobleme, die ich dank Cortisonspritzen und einer Trainingsumstellung wieder in den Griff bekam. 2020 erlitt ich die erste Gehirnerschütterung nach einem Trainingssturz in Lettland. 2021 stürzte ich auf der Olympiabahn in China erneut, hatte ein Schleudertrauma und musste ein Jahr danach das Schultergelenk operieren. Ich kehrte im Februar 2023 wieder aufs Eis zurück, musste aber feststellen, dass meine Reflexe zu langsam geworden waren. Unter diesen Umständen war ich nicht mehr bereit, weitere Risiken in meiner Sportart einzugehen. Damit war ich am Ende meiner Karriere angelangt.
Martin Kranz: Ich hatte auch schon zahlreiche Verletzungen, die mich ausser Gefecht gesetzt haben. Bei den meisten war es aber nicht allzu schlimm und ich konnte nach einigen Wochen Ruhe und Aufbautraining wieder voll mitmachen.
Vereinbarkeit von Sport und Studium
Beitrag von
Ralph Kohler, Projektleiter Marketing & Kommunikation
Nicole Reifler Steiner, Leitung Hochschulsport, Koordinatorin Spitzensport und Studium