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Spitzenposition durch internationale Netzwerke
Spitzenposition durch internationale Netzwerke

Spitzenposition durch internationale Netzwerke

Die Nicht-Assoziierung der Schweiz an die europäischen Rahmenprogramme für Forschung und Bildung beschäftigt Luciana Vaccaro nicht nur als Weltenbürgerin, die sie ist. Die Präsidentin von swissuniversities sieht dadurch die hervorragende Qualität von Lehre und Forschung in der Schweiz gefährdet. Der Fachhochschule Graubünden attestiert sie das Potenzial, «zu einem Juwel in der Schweizer Hochschullandschaft» zu werden.

Interview: Luzia Schmid / Bilder: HES-SO Fachhochschule Westschweiz

Frau Vaccaro, Sie sind in Genf geboren, in Neapel aufgewachsen und heute Präsidentin der Rektorenkonferenz swissuniversities. Wo fühlen Sie sich daheim?

Ich habe mich zwischen Italien und der Schweiz eingerichtet, aber ich würde sagen, dass ich zu 100 Prozent Schweizerin und zu 100 Prozent Italienerin bin. Das Gute daran ist, dass ich mich gar nicht entscheiden muss. Ich fühle mich sowohl in der Schweiz als auch in Italien zu Hause. Ich würde sogar noch weiter gehen: Ich betrachte mich vor allem als Weltbürgerin. Im Alltag sind meine Identitäten miteinander verflochten und werden gleichzeitig gelebt, ohne sich auszuschliessen. Diese Auffassung ermöglicht es mir, mich in der Schweiz wohl und am richtigen Ort zu fühlen und gleichzeitig den Reichtum meiner doppelten Identität zu geniessen.

Als Weltbürgerin mit Ihrem Hintergrund ist es für Sie bestimmt besonders stossend, dass die Schweiz aus den europäischen Forschungs- und Bildungsprogrammen ausgeschlossen wurde.

In der Tat. Die Nicht-Assoziierung der Schweiz an die europäischen Rahmenprogramme für Forschung und Bildung ist sehr problematisch. Abgesehen von den Hindernissen, mit denen jede einzelne Schweizer Hochschule konfrontiert ist, geht es hier um eine systemische Herausforderung: Die hervorragende Qualität von Lehre und Forschung an den Schweizer Hochschulen wurde in den letzten Jahrzehnten vor allem dank internationalem Austausch und enger Zusammenarbeit aufgebaut. Wissen und Bildung gehören zu den wichtigsten Ressourcen der Schweiz. Werden die Hochschulen geschwächt, verliert auch der Wirtschaftsstandort Schweiz an Attraktivität. Es liegt daher im allgemeinen Interesse, die Schwächung der internationalen Positionierung des Forschungsplatzes Schweiz zu verhindern.

Welches sind die grössten Nachteile, die der Schweiz sowie ihren Forschenden und Studierenden daraus entstehen?

Die hervorragende Qualität von Forschung und Lehre in der Schweiz ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit. Die Folgen des Ausschlusses der Schweiz von Erasmus+ und Horizon Europe werden daher nicht sofort sichtbar sein. Mit dem aktuellen Drittstaatenstatus der Schweiz können Schweizer Hochschulen nicht mehr an der Spitze von Forschungsprojekten stehen, die von Horizon Europe finanziert werden. Nebst dem finanziellen Verlust, den dies für die Hochschulen bedeutet, verlieren die in der Schweiz tätigen Forscher:innen ihre Netzwerke und werden von internationalen Kooperationen ausgeschlossen. Darüber hinaus schränkt der Ausschluss von Stipendien (ERC und MSCA) die Möglichkeiten ein, Talente in einer Austauschdynamik anzuziehen. Die Erfolge dieser Stipendien beruhen auf der Wettbewerbsfähigkeit – sie verleiht ihnen ein Prestige, das die Schweiz allein nicht reproduzieren kann. Schliesslich können die Schweizer Hochschulen aufgrund des Ausschlusses von Erasmus+ mit der aktuellen Schweizer Lösung das Potenzial für die Internationalisierung ihrer Studiengänge nicht voll ausschöpfen. Die Schweizer Hochschulen profitieren nämlich nicht vom Aufbau neuer Strukturen der bilateralen Programme von Erasmus+. Angesichts dieser Tatsachen bin ich besorgt, dass wir nun auf eine langsame Erosion der Qualität des Schweizer Hochschulsystems zusteuern.

Welche Möglichkeiten haben Sie als Präsidentin von swissuniversities – dem Dachverband der Schweizer Hochschulen –, sich dafür einzusetzen, dass die Teilnahme an den europäischen Programmen langfristig gesichert werden kann?

Als Präsidentin von swissuniversities wünsche ich mir natürlich, dass die Schweiz wieder an den europäischen Rahmenprogrammen im Bereich Forschung und Lehre teilnimmt. swissuniversities und die Schweizer Hochschulen setzen dafür auch enorm viel Energie ein. Dennoch ist eines klar: Sowohl das Problem als auch die Lösung basieren auf politischen Entscheiden. Die Beteiligung der Schweiz an Erasmus+ und Horizon Europe geht somit über den Kompetenzrahmen von swissuniversities hinaus.

Luciana Vaccaro
«Indem sie ihren Auftrag erfüllt und ihre Aufgaben wahrnimmt, besitzt die junge FH Graubünden alle Voraussetzungen, um zu einem Juwel in der Schweizer Hochschullandschaft zu werden.»

Das Thema unserer aktuellen Ausgabe sind «Netzwerke». Wie wichtig sind Netzwerke gerade für solche Diskussionen, etwa um die Assoziierung an Horizon Europe oder an andere internationale Bildungsprogramme?

Im Bereich der Forschung und der tertiären Bildung sind Netzwerke von grösster Bedeutung. Die Schweizer Hochschulen haben ihre internationale Spitzenposition und ihre Attraktivität durch internationalen Austausch aufgebaut. Die Wissenschaft ist ein grenzüberschreitendes Gemeinschaftswerk. Um es zu erhalten, sind die Hochschulen auf internationalen Austausch sowie günstige Rahmenbedingungen auf nationaler Ebene angewiesen. In dieser Hinsicht ist zwar jede bilaterale Initiative willkommen, doch die negativen Folgen des Ausschlusses der Schweiz von Erasmus+ und Horizon Europe erinnern uns daran, dass der Bilateralismus den Multilateralismus niemals ersetzen wird.

Die FH Graubünden ist die kleinste und jüngste Fachhochschule der Schweiz. Was braucht es aus Ihrer Sicht, damit eine Hochschule wie die unsrige, die auch noch sehr peripher gelegen ist, in der Schweizer Hochschullandschaft erfolgreich bestehen kann?

Es ist für die Hochschulen am wichtigsten, den öffentlichen Auftrag im Rahmen ihrer Autonomie zu erfüllen. Dies gilt für jede Hochschule in der Schweiz. Die FH Graubünden ist einzigartig in Bezug auf ihre Ausrichtung, ihr Profil und ihren geografischen Standort. Auf der Grundlage ihrer Besonderheiten kann sie ihre eigene Identität pflegen und eine «unique selling proposition» entwickeln. Da­durch schafft sie einen echten Mehrwert für ihre Gemeinschaft sowie für die Wirtschaft und die Gesellschaft. Indem sie ihren Auftrag erfüllt und ihre Aufgaben wahrnimmt, besitzt die junge FH Graubünden alle Voraussetzungen, um zu einem Juwel in der Schweizer Hochschullandschaft zu werden.

Sie stehen als Rektorin der Fachhochschule Westschweiz (HES-SO) einer Bildungsinstitution vor, die 28 Hochschulen in sieben Kantonen mit über 20 000 Studierenden umfasst, davon 5700 in Genf und 7800 im Kanton Waadt. Gute Netzwerke spielen da bestimmt eine wichtige Rolle.

Die HES-SO ist eine Struktur, deren Existenz auf Netzwerken beruht. Es geht nicht nur darum, die bestehenden Netzwerke zu pflegen, sondern auch darum, sie bestmöglich zu nutzen und gleichzeitig neue Netzwerke zu entwickeln. Ich sehe die HES-SO als kleine Konföderation, die sich aus miteinander verbundenen Einheiten zusammensetzt. All diese Einheiten bilden ein Ganzes, in dessen Rahmen man Einheit und Zustimmung schaffen und gleichzeitig die Besonderheiten und die Autonomie jeder einzelnen Einheit respektieren muss.

Sie wurden letztes Jahr als erste Präsidentin, die von einer Fachhochschule kam, an die Spitze von swissuniversities gewählt. Gewinnen die Fachhochschulen in der Schweiz vermehrt an Bedeutung?

Zunächst möchte ich daran erinnern, dass ich in meiner Funktion als Präsidentin von swissuniversities alle Schweizer Hochschulen repräsentiere. Es ist jedoch richtig, dass swissuniversities zum ersten Mal seit seiner Gründung von der Rektorin einer Fachhochschule präsidiert wird. Ich würde dieses «Novum» mit folgenden Begründungen erklären: Zum einen sehe ich darin den Beweis, dass das Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz funktioniert. Zum anderen sehe ich darin ein Zeichen dafür, dass die Fachhochschulen einen gewissen Reifegrad erreicht haben. Daraus schliesse ich, dass die Fachhochschulen ihren Platz in der Schweizer Hochschullandschaft gefunden haben.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

Über Luciana Vaccaro
Die 53-Jährige hat an der Universität Federico II in Neapel einen Master in Physik erworben und an der EPFL in Mikrotechnik promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Optik und Elektromagnetismus; sie hat insbesondere hochauflösende mikroskopische Techniken entwickelt. Sie war Mitglied mehrerer nationaler Wissenschafts- und Innovationsräte. 2013 wurde Luciana Vaccaro im Alter von nur 44 Jahren zur Rektorin der HES-SO ernannt. Seit Februar 2023 ist sie Präsidentin von swissuniversities, der Rektorenkonferenz der Schweizer Hochschulen. Luciana Vaccaro ist verheiratet und hat zwei Töchter.

Über die HES-SO
Die HES-SO Fachhochschule Westschweiz, die rund 21 000 Studierende zählt, ist in den vergangenen Jahren zur grössten Fachhochschule der Schweiz avanciert. Sie umfasst 28 Schulen in den Kantonen Freiburg, Genf, Jura, Neuenburg, Wallis, Waadt und Bern. An der HES-SO werden 44 Bachelor- und 26 Masterstudiengänge angeboten.

Beitrag von

Luzia Schmid, Projektleiterin Hochschulkommunikation, Redaktionsleiterin