«Dienen» kommt vor «verdienen»
Im Supply Chain Management geht es um die Gestaltung und die Pflege von Netzwerken. Darum wird der Begriff «Lieferkette» häufig durch «Wertschöpfungsnetzwerk» ersetzt. Jasmin Schnider aus dem Digital Supply Chain Management Team der Fachhochschule Graubünden hat mit Marco Ruocco, einem Networking-Profi, darüber gesprochen, wie auch weltweite Unternehmensnetzwerke von Menschen abhängen und wie aus dem Bauen von Brücken Wert und Nachhaltigkeit entstehen können.
Interview: Jasmin Schnider, Dominic Käslin / Bilder: zVg
Marco, du bist nicht nur beim Transport- und Logistikunternehmen DSV Air & Sea AG für den Verkauf von globalen Logistiklösungen zuständig, sondern auch Vorstandsmitglied der Swiss-Asian Chamber of Commerce. Was machst du dort genau?
Als ich vor rund 20 Jahren der Swiss-Asian Chamber of Commerce als Mitglied beigetreten bin, habe ich meine Netzwerke aufgebaut und sehr viele Visitenkarten getauscht. Heute bin ich Vorstandsmitglied und darf die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und Asien mitgestalten. Als Organisation führen wir regelmässig Events und Webinare durch und pflegen Kontakte zu Unternehmen und Regierungen in der Schweiz und in asiatischen Ländern. Auch in der Schweiz tätige Botschafter:innen sind in diesem Kontext wichtige Netzwerkpartner:innen. Deshalb verstehe ich unsere Organisation als physische Networking-Plattform, die es ermöglicht, Verbindungen zu knüpfen sowie Geschäftsmöglichkeiten zu entwickeln und aufzubauen.
Wie stehst du zum Networking über Onlineplattformen wie LinkedIn? Kann dadurch das Netzwerken in der physischen Welt ersetzt werden?
Besonders im Zuge der Corona-Pandemie wurden die physischen Netzwerke stiefmütterlich behandelt. Man meinte, dass persönliches Netzwerken nicht mehr möglich oder nötig sei. Gerade im Zusammenhang mit Nachhaltigkeitsthemen merkte ich jedoch, wie wichtig der persönliche Kontakt ist – der zunehmend wichtiger wird. So hat DSV beispielsweise eine Partnerschaft mit dem Sustainability-Start-up Tide Ocean SA aufgebaut. DSV ist nicht nur global der exklusive Logistikpartner für das junge Unternehmen, das PET-Flaschen aus den Ozeanen holt und Kunststoffgranulat daraus herstellt, sondern ich stelle für dieses Start-up auch Kontakte zu potenziellen Kund:innen her. Ohne persönliche Gespräche könnte ich solche Verbindungen gar nicht herstellen, denn erst dann gibt es einen künftigen Anknüpfungspunkt, den ich vielleicht sogar nur aus einem Nebensatz heraushöre. Erst dadurch kann ich unseren Kund:innen etwaige Zusatzleistungen anbieten und Unternehmen helfen, indem ich Kontakte vermittle – beispielsweise wenn sie einen neuen Standort in Asien aufbauen möchten.
Kann ein solches Netzwerk auch ein Alleinstellungsmerkmal – ein USP – für ein Unternehmen in einer Supply Chain sein?
Absolut! Nur scheint es mir, dass noch nicht alle Firmen dies erkennen. Mein derzeitiger Arbeitgeber ist ein innovatives, modernes Unternehmen, das diesen Weg unterstützt. So kann ich meine persönlichen und geschäftlichen Kontakte nutzen, um Verbindungen herzustellen, die für andere noch keinen Zusammenhang ergeben. Auch als Vorstandsmitglied der Handelskammer bin ich kein Experte in allen Themenbereichen, doch ich weiss meistens, mit wem jemand reden sollte, um echtes Expertenwissen vermittelt zu bekommen. Durch solche «Verknüpfungen» entsteht für unsere Kund:innen ein Mehrwert. Auf der anderen Seite gibt es heute noch immer Logistikdienstleister, die ihr Kerngeschäft als das Bewegen von Waren von A nach B verstehen – eventuell noch mit einigen vor- und nachgelagerten Dienstleistungen verbunden. Diese Leistung ist jedoch einfach austauschbar. Obwohl besonders bei Logistikdienstleistern grosse Netzwerke existieren würden, tun sich immer noch viele schwer damit, ihre Kontakte so einzusetzen, dass ein Zusatznutzen daraus entsteht. Durch das Knüpfen der passenden Kontakte kann sich ein Unternehmen weiterentwickeln – vom reinen Anbieter von Speditionsleistungen hin zum Unterstützer für seine Kund:innen, damit diese schneller oder einfacher an ihr Ziel gelangen. Bei mir macht dies inzwischen einen Grossteil meines beruflichen Alltags aus. Ich konnte dadurch neue Kund:innen gewinnen, die uns Aufträge vergeben haben, weil ich ihnen durch mein Netzwerk helfen konnte, ein Problem zu lösen. Der Preis der Transportleistung spielte dabei eine untergeordnete Rolle, besonders wenn die Kosten der Leistung im Vergleich zum Nutzen infolge der geschaffenen Vernetzung gering waren. Unternehmen können sich durch einen guten Kontakt teure Unternehmensberatungen und langwierige Prozesse sparen. Für mich ist das in der Zwischenzeit zu einem echten Geschäftsmodell geworden, das häufig zu Win-win-win-Ergebnissen führt. Alle Parteien gewinnen durch den Austausch. So konnte ich in der Vergangenheit einem Ostschweizer Unternehmen, das einen neuen Werkzeugbauer in China suchte, über Kontakte zu einem Schweizer Unternehmen in China dabei helfen, einen kompetenten Partner zu finden. Das unterstützende Unternehmen konnte durch den Austausch mit der Ostschweizer Firma einen Neukunden gewinnen und die Panalpina Legacy (heute DSV) durfte damals für beide Unternehmen die Transporte zwischen der Schweiz und China übernehmen.
Was muss ein Unternehmen tun, um sein Geschäftsmodell ebenfalls so zu gestalten?
Der wichtigste Punkt aus meiner Sicht ist die Erkenntnis, dass «dienen» vor «verdienen» kommt.
Wenn ich jemandem bei der Kontaktherstellung helfe, dann signalisiere ich indirekt, dass ich in Zukunft vielleicht auch einmal Unterstützung durch die betreffende Person oder Organisation benötigen könnte. Wann genau dieser Moment kommt oder ob er überhaupt jemals kommen wird, ist zum Zeitpunkt meiner Unterstützung noch unklar. Ein Unternehmen muss das zulassen. Es geht darum, den Austausch von Wissen zu fördern und zu ermöglichen. Erst dadurch entstehen – vielleicht erst nach mehreren Jahren – für alle Parteien gewinnbringende Kontakte. Diesen Fokus auf den Mehrwert muss ein Unternehmen in aller Konsequenz verinnerlichen, besonders wenn die eigentliche Leistung relativ einfach austauschbar ist.
An der FH Graubünden sprichst du mit den Studierenden der Studienrichtung Digital Supply Chain Management über den Aufbau und die Pflege von Netzwerken. Wenn jemand noch nicht so ein grosses Netzwerk hat wie du, wie kann er oder sie am besten mit dessen Aufbau und Gestaltung beginnen?
Am besten fragt sich die betreffende Person, in welche Organisation sie als Zuschauer:in «hineinhören» und wie sie sich dort einbringen könnte. Es schadet dabei nicht, ein wenig extrovertiert zu sein. An Netzwerk-Events teilzunehmen, den Vorträgen zuzuhören und dann gleich wieder zu gehen, wenn der informelle Teil beginnt, hilft wenig. Die Person muss aktiv auf andere Leute zugehen und sich wirklich dafür interessieren, wer der jeweils andere Mensch ist und was er oder sie sagt. Auch da gilt wieder: «Das Dienen kommt vor dem Verdienen». Wenn man mit Menschen spricht und ständig nach dem unmittelbaren Nutzen solcher Gespräche sucht, dann ist man nicht präsent. Wenn ich mit jemandem rede und dabei nur den eigenen Nutzen im Kopf habe, denke ich nicht an mein Gegenüber.
Darum mein Rat: Sei präsent. Das zu sein, ist keine grosse Kunst. Wenn man mit jemandem redet, hört man zu oder stellt Fragen, ohne einen unmittelbaren Nutzen dahinter zu sehen oder zu suchen. Oft hört man so Dinge, die andere Menschen überhören oder gar nie zu hören bekommen. Es ist meine Philosophie, keinen Unterschied zwischen einem Clochard und einem König zu machen – ich bin präsent, unabhängig von Rang und Namen.
Die Frage «Was bringt mir das?» ist ein Satz, den ich nicht gerne höre. Oder auch die Frage: «Warum sollte ich an diesen Anlass gehen? Was bringt mir das?» Vielleicht bringt es wirklich nichts – aber vielleicht bringt es auch die halbe Welt. Nur weiss man das zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Über Marco Ruocco
Marco Ruocco ist bei DSV Air & Sea AG, einem global führenden Logistikdienstleister, für den Verkauf von Speditionsleistungen, Luft- und Seefracht sowie Lager- und Kontraktlogistik zuständig. Zudem ist er Vorstandsmitglied der Swiss-Asian Chamber of Commerce und wirkt bei der Organisation von Satellitenanlässen mit, die beispielsweise in Davos während des WEF stattfinden. Er ist ein leidenschaftlicher Netzwerker, der Unternehmen bei der Optimierung ihrer Supply Chains – mit Fokus auf Freihandel, Marktzugang in Asien, globale Beschaffung sowie Nachhaltigkeit – unterstützt. Seit 2003 liegt sein Schwerpunkt auf dem asiatischen Raum, wo er Netzwerkbeziehungen zu Unternehmen, Handelskammern und der öffentlichen Hand unterhält und pflegt. Der FH Graubünden ist er als regelmässiger Gastreferent im Rahmen des Bachelorangebots Digital Supply Chain Management verbunden.
Beitrag von
Jasmin Schnider, Wissenschaftliche Projektmitarbeiterin, Zentrum für Betriebswirtschaftslehre
Dominic Käslin, Studienleiter, Zentrum für Betriebswirtschaftslehre