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«Wissen und Kompetenzen sind keine Gegensätze»
«Wissen und Kompetenzen sind keine Gegensätze»

«Wissen und Kompetenzen sind keine Gegensätze»

«Die Coronakrise hat vielen die Augen geöffnet und den Menschen wieder ins Zentrum gerückt», sagt Gian-Paolo Curcio, Rektor der Pädagogischen Hochschule Graubünden. Und sie habe deutlich gemacht, wie wichtig die Rolle und die Aufgaben der Lehrpersonen seien.

Text: Luzia Schmid / Bild: PH Graubünden

Wir blicken auf ein ausserordentliches halbes Jahr zurück: Das Coronavirus hat rund um den Erdball das Leben zum Stillstand gebracht. Die Schulen blieben mehrere Wochen lang geschlossen. Was ist Ihnen in dieser Zeit durch den Kopf gegangen?
In der Krise sind die Menschen trotz Abstandsregel wieder näher zusammengerückt. Das gesellschaftliche Tempo wurde abrupt und drastisch reduziert. Frei gewordene Energien wurden für Solidaritätsaktionen eingesetzt. Wir haben selten so intensiv miteinander kommuniziert und uns auf das Wesentliche konzentriert. Kurz: Der Mensch wurde wieder stärker ins Zentrum gerückt. Ich denke, diese Krise hat uns die Augen geöffnet und uns stärker gemacht.

Die präsenzunterrichtsfreie Zeit hat Lehrpersonen, Studierende, Kinder und auch Eltern sehr gefordert. Wie hat diese Ausnahmesituation die Schulen verändert?
Die Schulen haben sehr rasch reagiert und in dieser für sie neuen Situation gute Lösungen gefunden. Dabei wurde deutlich, wie wichtig ein tragfähiges Informatikkonzept für Schulen ist, welchen Einfluss die soziale Situation der Familien auf den Lernerfolg hat, wie gross die Unterschiede diesbezüglich sein können und was für eine Bedeutung das Fach «Medien und Informatik» hat. Letztlich wurde auch erneut deutlich, wie wichtig die Rolle und die Aufgaben der Lehrpersonen sind.

Lehrerinnen und Lehrer haben eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Sie sind dort tätig, wo die Weichen gestellt werden, wo Menschen – seien es kleine oder grosse – ihren Weg fürs Leben finden müssen. Worauf kommt es dabei an?
Lehrerinnen und Lehrer erfüllen einen äusserst wichtigen Auftrag in der Gesellschaft. Sie bilden die künftigen Generationen aus. So erziehen sie beispielsweise Schülerinnen und Schüler zu einer Haltung, die sich an christlichen, humanistischen und demokratischen Wertvorstellungen orientiert. Sie fördern die Urteilsfähigkeit, die Kreativität, das Wissen und die Leistungsbereitschaft der Kinder und Jugendlichen. Zudem unterstützen Lehrpersonen ihre Schülerinnen und Schüler in ihrer Entwicklung, beim Erwerb sozialer Kompetenzen sowie auf ihrem Weg zu verantwortungsvollem Handeln gegenüber den Mitmenschen und der Umwelt. Für diese Aufgabe braucht es eine hohe kognitive, sozial-emotionale und praktische Intelligenz bzw. Kompetenz.

 

«Kreativität, Kooperation, Kommunikation und die Fähigkeit zur Konfliktlösung können nur bedingt automatisiert werden: Hierzu braucht es den Menschen.»
Gian-Paolo Curcio, Rektor, Pädagogische Hochschule Graubünden

Die Digitalisierung, die sozialen Medien und der technische Fortschritt haben einen grossen Einfluss auf die jungen Menschen. Haben diese Entwicklungen die Arbeit von Lehrerinnen und Lehrer verändert?
Besonders die Megatrends Konnektivität, Wissensgesellschaft und Individualisierung werden  beschleunigt. Dies wirkt sich direkt auf die Arbeit der Lehrpersonen aus. Mit den entsprechenden Endgeräten kann orts- und zeitunabhängig Wissen abgerufen werden. Die Bedeutung des Wissens rückt damit vermeintlich in den Hintergrund. Der Einsatz dieses Wissens zur Lösung neuer Probleme gewinnt hingegen an Bedeutung. Mit der dem Lehrplan 21 zugrundeliegenden Kompetenzorientierung versucht die Schule, auf dieses Phänomen zu reagieren. Aber Achtung: Wissen und Kompetenzen sind keine Gegensätze! Ohne Wissen können die zur Lösung von Problemen benötigten Kompetenzen nicht entwickelt werden. Wissen und Können sind demnach die jeweils andere Seite derselben Medaille.

Und wo steht der Mensch im Zuge dieser Entwicklung?
Mit zunehmender technologischer Durchdringung der Gesellschaft wird der Faktor Mensch immer wichtiger. Kreativität, Kooperation, Kommunikation und die Fähigkeit zur Konfliktlösung können nur bedingt automatisiert werden: Hierzu braucht es den Menschen.

Sie sagten, durch die Coronakrise sei der Mensch wieder stärker ins Zentrum gerückt. Gleichzeitig erlebte aber auch die Digitalisierung einen Schub. An der FH Graubünden wurden zum Beispiel neue Lehr- und Lernformate entwickelt. Wie haben Sie das erlebt?
Die Dozierenden an der PH Graubünden waren sehr gut auf die Situation vorbereitet. Einen wesentlichen Beitrag dazu hat unsere IT-Strategie geleistet. Während der Phase des Distanzlernens konnte man sehr gut beobachten, wie die aus der Situation entstandene Notwendigkeit extrinsische Impulse generierte. Diese wurden von vielen Mitarbeitenden aufgenommen und verinnerlicht. Auf einmal entstand ein relativ starkes Interesse am Einsatz der neuen Technologien. Auch bei uns wurden neue Lehr- und Lernformate entwickelt und eingesetzt.

Die ausserordentliche Lage wird also auch im Bildungsbereich ihre Spuren hinterlassen?
Ich bin davon überzeugt, dass COVID-19 nicht nur die Volksschule, sondern vielmehr auch die Hochschulen verändern wird. Blended Learning, Flipped Classroom, Videokonferenzen und Homeoffice sind nur einige der Themen, auf die wir als Hochschulen reagieren müssen. Aber trotz aller «Digitalisierungshysterie» ist an dieser Stelle eine sorgfältige Analyse gefordert. Letztlich geht es um die Wirksamkeit der Lehr- und Lernprozesse.

Gibt es Bereiche, in denen die FH Graubünden und die PH Graubünden zusammenarbeiten bzw. voneinander profitieren können?
Die FH und die PH Graubünden arbeiten sowohl in den Bereichen Personaladministration, Finanzwesen, Informatik und Hochschulsport als auch im Rahmen von Forschungs- und Entwicklungsprojekten zusammen. Nach meinem Dafürhalten besteht vor allem auch im Ausbau der gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungsprojekte, beispielsweise in der Förderung der MINT-Fächer, grosses Potenzial.

Die FH Graubünden muss sich in der Hochschullandschaft – auch wegen ihres peripheren Standorts – gegenüber einer grossen Konkurrenz behaupten. Was sind aus Ihrer Sicht die Trümpfe, welche die Fachhochschule in der Hand hat?
Ich nehme die FH Graubünden als sehr engagierte, flexible und vor allem auch innovative Fachhochschule wahr. Das Tempo, mit dem an der FH Graubünden gänzlich neue Studiengänge entwickelt, angeboten und durchgeführt werden, ist wirklich sehr beeindruckend. Dazu braucht es das entsprechende Personal. Die FH Graubünden besitzt wie erwähnt viele Trümpfe – ihr grösster Trumpf sind die Menschen, die Hochschulangehörigen, welche die FH Graubünden ausmachen.

 Das Interview mit Gian-Paolo Curcio wurde schriftlich geführt.

Über Gian Paolo Curcio
Gian-Paolo Curcio, Jahrgang 1976, besuchte das Oberwalliser Lehrerseminar in Brig. Anschliessend studierte er Pädagogik und Pädagogische Psychologie und Geschichte an der Universität Fribourg und unterrichtete parallel dazu auf verschiedenen Schulstufen. Nach dem Lizenziat war er als wissenschaftlicher Assistent an der Militärakademie an der ETH Zürich tätig. Später leitete Curcio ein Projekt des Bundesamtes für Berufsbildung und Technologie. 2011 wurde er Prorektor und Abteilungsleiter Grundausbildung an der PH Graubünden, seit 2014 ist er deren Rektor.

Über die PH Graubünden
Die PH Graubünden bietet ein berufsbefähigendes Bachelorstudium für Kindergarten und Primarschule mit einem Drittel Praxisanteil. Als dreisprachige Hochschule legt sie grossen Wert auf ihre Sprachenvielfalt (Deutsch, Romanisch & Italienisch) und ermöglicht einen zweisprachigen Abschluss. Weiterbildungen auf Masterniveau, Zertifikatslehrgänge und eine breite Auswahl an Zusatzqualifikationen für Lehrpersonen komplettieren das umfangreiche Angebot der PH Graubünden. Die PH Graubünden forscht zu aktuellen Themen im schulischen Umfeld. phgr.ch

Beitrag von

Luzia Schmid, Hochschulkommunikation