Muss Wirklichkeit wahr sein?
Der Kampf um die Wahrheit wird mit harten Bandagen geführt. Wem sollen wir glauben, wem folgen, wem vertrauen? Mit wem sollen wir Wirklichkeit in welcher Form konstruieren? Wir als Dozierende können mit unseren Studierenden am Aufbau dieser Handlungskompetenz arbeiten – nicht als Verkünder oder Prediger der Wahrheit, sondern als kritische Coaches bei der Gestaltung unserer Zukunft.
Text: Eric Dieth / Bild: FH Graubünden
Vertrauen wir den wissenschaftlichen Tatsachen, den sozialen oder traditionellen Medien, den «Breaking News» oder «Fake News», den politischen oder wirtschaftlichen Akteuren, dem göttlichen Gebot oder dem künstlerischen Ausdruck? Wie können wir angesichts der Kakophonie dieser Realitätsvorschläge verantwortungsvoll Wirklichkeit erschaffen?
Der Kampf um die Wahrheit ist zumeist ein Kampf um Dominanz, ein Machtkampf, wie sich aktuell und ausgeprägt am Beispiel des amerikanischen Präsidenten zeigen lässt. Donald Trump lügt leidenschaftlich, enthemmt, ungeniert. Seiner narzisstischen Persönlichkeit entsprechend verkündete er weltweit und bei jeder Gelegenheit, dass an seiner Inaugurationsfeier weitaus mehr Personen teilgenommen hätten als an derjenigen von Barack Obama. Ein Vergleich der Luftaufnahmen der Mall von Washington wies jedoch eher darauf hin, dass Trump nur etwa ein Drittel so viele Zuschauer hatte mobilisieren können. Je mehr seine Aussage in Zweifel gezogen wurde, desto mehr insistierte der Präsident auf seiner Wahrheit und verurteilte alle abweichenden Aussagen als «Fake News».
Das Phänomen Klimawandel ist von weitaus grösserer Komplexität als die Anwesenheit von Menschen auf einem Platz. Seine Existenz – wie auch der Beitrag des Menschen zu dessen Entwicklung –war lange umstritten. Dass der Klimawandel wirklich und wahrhaftig stattfindet, wird zumeist mit der grossen Zahl an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern begründet, die diese Thesen unterstützen. Nicht der Verweis auf «wissenschaftliche Wahrheit» und «Tatsachen» steht dabei im Zentrum, sondern man stützt sich auf den Konsens der Expertenmehrheit ab, auf die «herrschende Meinung».
Nichtwissen und Ungewissheit während der Covid-19-Pandemie
Im Gegensatz zum Klimawandel, wo sich mit der Zeit ein hohes Mass an übereinstimmender Gewissheit entwickelte, ist das Phänomen Covid-19 noch nicht ganz dort angelangt. Politische Entscheidungen wurden vor dem Hintergrund grosser Ungewissheit gefällt und die Diskussion über die Ursachen und Auswirkungen fand und findet parallel dazu in höchster Intensität statt. Wie so oft wurde auch hier ein Kampf um die «Deutungshoheit» geführt: In Wissenschaftskreisen ist man der Auffassung, sich noch zu wenig Gehör verschafft zu haben, die Politik sieht sich ihrer Konstruktionsmacht beraubt und die Wirtschaftsverbände, die häufig einen grossen Einfluss auf die Gestaltung der Wirklichkeit ausüben, müssen weitgehend hinnehmen, dass zum Beispiel in der Schweiz über längere Zeit sieben Personen entschieden haben, was «Sache ist». Doch auch diese Sieben sind darauf angewiesen, dass ihre Realitätsvorschläge gehört, ernst genommen und im Alltag umgesetzt werden. Dies gilt nicht nur für Demokratien: Auch autoritäre politische Systeme nutzen wissenschaftliche Stellungnahmen, um ihren Steuerungsanspruch zu legitimieren. Ob es «geteilte Wirklichkeit» wird, hängt von jedem und jeder Einzelnen ab – woraus sich auch die grosse Angst vor abweichendem Verhalten, vor Kritik oder Protest ableitet.
Im Realismus wird die absolut wahre, objektiv-neutrale Beschreibung der Wirklichkeit als möglich und notwendig angesehen. Die Realität und deren wahrhafte Beschreibung gelten als Massstab unseres Handelns. Weil wir historisch mit Ansprüchen auf absolute Wahrheit äusserst negative Erfahrungen gemacht haben, herrscht heute in der Wissenschaft wie auch in der Demokratie die Überzeugung vor, dass wir Wahrheit zwar erreichen, ihrer jedoch nicht gewiss sein können. Im Sinne der Vielfalt von Ansichten verzichtet der Relativismus auf die absolute Wahrheit und ist davon überzeugt, dass es verschiedene Auffassungen der Wirklichkeit gibt und keine per se einen Anspruch auf Vorrang erheben kann.
Verantwortung nicht an die Realität delegieren
Mir scheint, wir sollten noch einen Schritt weitergehen und eine konstruktivistische Position einnehmen: Massgebend ist die Wirklichkeit, die wir gemeinsam erschaffen und für die wir entsprechend verantwortlich zeichnen. Dies bedeutet, dass wir unsere Verantwortung nicht an die Realität oder die Wahrheit delegieren sollten: Die Ökonomen sollten sich nicht hinter dem Markt, die Juristinnen nicht hinter dem Recht, die Biologen nicht hinter der Natur und die Physikerinnen nicht hinter den Naturgesetzen verstecken, sondern sie alle sollten Verantwortung für ihre Realitätsvorschläge und die damit konstruierten Wirklichkeiten übernehmen. Entscheidend ist dann nicht die Realität, sondern die Gesamtheit der Werte, die unseren Konstruktionen zu Grunde liegen. Dies ist das Gegenteil des anomischen (normlosen, wertfreien) Trumpismus, denn dieser folgt allein dem Grundsatz «Lasst mich tun, was mir gefällt – nur der Golfplatz zählt». Das zentrale Problem des Trumpismus ist meiner Ansicht nach nicht dessen Beziehung zur Wirklichkeit und zur Wahrheit im objektiven Sinn, sondern dessen kategorische Verneinung jeglicher Verantwortung. Trump will schlichtweg keine Verantwortung übernehmen – und als pathologischer Narzisst kann er dies wohl auch nicht. Entsprechend ist er nicht in der Lage, sich einem kritischen Diskurs auszusetzen. Damit aber unsere Wirklichkeitskonstruktionen langfristig für alle Beteiligten erfolgreich sind, sollten sie im Rahmen von selbst- wie fremdkritischen Diskursen unter Gleichen stattfinden. Basierend auf den Werten Gemeinwohl, Gerechtigkeit, Freiheit, Verantwortung und Solidarität sollte eine herrschaftsfreie Auseinandersetzung darüber geführt werden können, wie wir unsere Beziehungen zueinander und zu allen Existenzen auf dieser Welt gestalten wollen. Alle, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und den Anderen in respektvoller Art und Weise zuzuhören, sollen Zugang zum Konstruktionsprozess erhalten. Wo nötig, soll die Gesellschaft dafür Sorge tragen, dass den Schwächsten Gehör verschafft wird.
Dozierende als kritische Begleiter
Was bedeutet ein konstruktivistischer Zugang zu Wirklichkeit und Wahrheit für den Fachhochschulunterricht? Wo wir gemeinsam Wirklichkeit konstruieren, sind die Dozierenden nicht die Verkünder, Prediger oder Besitzer der Wahrheit, sondern werden für die Studierenden zu Coaches, kritisch Begleitenden und fördernd Herausfordernden. Ein Teil der Arbeit ist Wissensvermittlung. Im Rahmen einer Gesellschaft mit zunehmend unbeschränktem Zugang zu Information sollte allerdings auch die Sozialkompetenz im Sinne einer kooperativen Beteiligung am Konstruktionsprozess mindestens so bedeutsam werden. Es sollten Wege zu verschiedenen Wirklichkeiten aufgezeigt und deren Vor- und Nachteile diskutiert werden. Und wir alle sollten uns zum Umgang mit unendlicher Komplexität befähigen. Es geht meiner Ansicht nach darum, eine Gemeinschaft von Studierenden und Lehrenden herzustellen, um gemeinsam an unseren Zukunftschancen zu arbeiten.
Wir können die anomische Präsidentschaft Trumps als Gelegenheit nutzen, um zu reflektieren und zu entscheiden, welche Wirklichkeit wir mit unseren Studierenden konstruieren und welchen Werten wir Nachachtung verschaffen wollen. Nicht die Realität sollte im Zentrum unseres Bemühens stehen, sondern die Menschen, die Mitwelt und ihre Beziehungen. Der Einwand, dass dies unrealistisch sei, spielt im Konstruktivismus zum Glück keine Rolle.
Beitrag von
Eric Dieth
Dozent, Zentrum für Betriebswirtschaftslehre