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Einblicke – ein Sabbatical in Georgien
Einblicke - ein Sabbatical in Georgien

Einblicke - ein Sabbatical in Georgien

Ein Sabbatical voller spannender Eindrücke, faszinierender Landschaften und herzlicher Begegnungen – Ulrich Hauser-Ehninger, Dozent am Institut für Photonics und ICT (IPI) der FH Graubünden, reiste mit seiner Familie im Herbst 2019 für fünf Monate nach Georgien. Dort unterrichtete er auch an der Ilia-University in Tbilisi und war fasziniert von der Andersartigkeit dieses Landes.

Text und Bilder: Ulrich Hauser-Ehninger

Als Gott das Land an die Völker verteilte, sassen die Georgierinnen und Georgier beisammen, lobpreisten den Herrn bei Wein und fröhlichem Gesang und erschienen viel zu spät vor seinem Thron. Der Allmächtige zeigte sich jedoch gerührt und schenkte ihnen das kostbarste Stück Land, das noch übriggeblieben war: sein eigenes. (Legende aus Georgien)

Nach drei wunderschönen Wochen und 3500 Kilometern im Wohnmobil durch Österreich, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und die Türkei erreichten wir die Landesgrenze zu Georgien. Schon die folgenden 20 Kilometer bedeuteten für uns einen gehörigen Kulturschock. Die Fahrweise der Georgierinnen und Georgier lässt sich mit keiner der Erfahrungen vergleichen, die wir in vielen Ländern zuvor gemacht hatten. In Batumi, einer wichtigen Hafenstadt am Schwarzen Meer, war es fast undenkbar, ohne Totalschaden davonzukommen. Wir hatten während der nächsten 400-Kilometer-Etappe nach Tbilisi, der Hauptstadt Georgiens, Gelegenheit, uns an das Ignorieren sämtlicher Verkehrsregeln und das völlige Fehlen von Rücksichtnahme zu gewöhnen. Später erfuhren wir, dass Autofahren hier eigentlich nur dem Zweck dient, die eigene Überlegenheit zur Schau zu stellen, weshalb Rücksichtnahme einfach keine Option ist, da «Mann» sonst seine Minderwertigkeit eingestehen würde. Auf der anderen Seite hatten wir Gelegenheit, die unglaublich schöne Landschaft in Georgien zu erkunden. Auch interessante Überraschungen mit der Fauna durften wir erleben.

Mondlandschaft im Hinterland
Faszinierende Tierwelt
Uplisziche, Festungs- und Höhlenstadt
Sonnenuntergang in Ushguli

Akademische Einblicke

Die ersten Meetings verliefen sehr freundlich, jedoch vorsichtig. Die Uni orientiert sich am ECTS-Standard und hat entsprechend formalisierte Vorstellungen von Curriculumsbeschreibung, Unterrichtsstruktur und Evaluation. Allerdings war bei meiner Ankunft noch nicht klar, was ich unterrichten sollte. Wir einigten uns auf zwei Fächer mit je 6 ECTS: eine Einführung in die Programmiersprache C und das IoT (Internet of Things). Die Vorbereitung auf Englisch – mit ausformuliertem Skript, Übungen und allem, was dazugehört – erforderte während der nächsten vier Wochen meine volle Zeit. Währenddessen versuchte ich, Raspberry Pi’s für IoT aufzutreiben. Ein Exemplar konnte ich bei einem Computerhändler erstehen. Weitere acht brachte ein Bekannter vorbei, der an der FH Graubünden als Lehrbeauftragter arbeitet und sie auf seine Fahrt nach Tbilisi mitnahm. Es stellte sich heraus, dass die Renovation von wichtiger Gebäudeinfrastruktur nicht rechtzeitig fertiggestellt werden konnte. Deshalb wurde das Semester um zwei Wochen nach hinten verschoben. Kein Problem.

Für IoT brauchte ich einige wenige Standardänderungen an der Netzwerkkonfiguration – ein Problem, das mich ein halbes Semester lang beschäftigte. Die Herren von der IT sprechen kaum Englisch, eine extrem hilfsbereite Studienassistentin übersetzte für mich. «Ja, alles kein Problem, das wird gemacht», hiess es. Aber es geschah nichts. Auch die Installation von VirtualBox auf den Arbeitsplatz-Computern fand einfach nicht statt. Als mir der Geduldsfaden riss und ich aus dem Unterricht heraus die Studienassistenz um Hilfe bat, erschienen zehn Minuten später zwei Herren von der IT und installierten mit einem USB-Stick an jedem einzelnen PC die VirtualBox-Software – sehr freundlich und ohne jegliches Anzeichen eines schlechten Gewissens.

Am ersten Studientag war zu Unterrichtsbeginn eine Studentin anwesend ... weitere 14 trudelten während der nächsten halben Stunde ein ... 18 waren angemeldet. Nur die Studentinnen nahmen aktiv am Unterricht teil und notierten sich Dinge. Von den Studenten schrieb nicht einer mit. Das Semester entwickelte sich entlang dieser Linien: wenig Präsenz und keinerlei Hausaufgabenaktivität, obwohl diese bewertet wird. Aktiv waren nur die georgischen Studentinnen sowie Studierende aus dem Ausland (aus Ägypten, dem Iran, Pakistan und Südkorea). Diese zeigten echtes Interesse und Engagement. Das Ergebnis: Von den 18 Studierenden im ersten Semester erreichten nur die Frauen die Zulassung zur Modulschlussprüfung. Vier von fünf bestanden die Prüfung. Eine Studentin aus dem Iran, die zu Semesterbeginn eine völlige Anfängerin war, wurde mit grossem Abstand Klassenbeste, obwohl andere schon mit Grundkenntnissen in das Semester gestartet waren. Im dritten Semester bei IoT qualifizierten sich von den neun Studierenden ausschliesslich die internationalen Teilnehmerinnen und Teilnehmer für die Prüfung und bestanden sie alle.

Die interessierten Studierenden gaben mir alle ein extrem positives Feedback. Mit einigen von ihnen stehe ich jetzt noch in regelmässigem Kontakt. Die anderen waren überrascht, dass ich keine Schlupflöcher für ein Bestehen ohne Qualifikation für die Abschlussprüfung für sie öffnete. Sie schienen das gewohnt zu sein. Ausserdem gab es wohl viele Dozierende, die den Begriff «Lecture» noch absolut wörtlich nahmen und ausserhalb der Lektionen keinen Kontakt zu den Studierenden wünschten. «Couldn’t you just stay until we have finished our Bachelors?» wurde ich denn auch mehrfach gefragt, was das grösste Kompliment für mich war.

Die mit der Uni geplanten Forschungsarbeiten im Bereich Didaktik kamen leider nicht zustande, da die betreffende Dozentin fast das gesamte Semester auf Konferenzreisen war. Ich war jedoch froh um etwas mehr Luft, da wegen der Schwierigkeiten mit dem Support und anderen «Dolce vita»-Effekten die Organisation der 12 ECTS-Punkte schon sehr aufwändig war. Rückblickend bekam die Frage aus dem Einführungsgespräch, ob ich mir die 12 ECTS wirklich zutraue, durchaus ihren Sinn.

Unsere zwei Töchter, 14 und 16 Jahre alt, bestätigten meine Erfahrungen. Sie bemühten sich mutig, in einer georgischen Regelschule dem Unterricht zu folgen, Sprache und Schrift zu lernen. Es war für sie sehr anstrengend, vor allem wegen des Lärmpegels, der durch die einheimischen Jungs erzeugt, aber selten entschieden gebremst wurde.

Studentinnen sowie Studierende aus dem Ausland zeigten viel Engagement
Die Studierenden schätzen auch den Kontakt ausserhalb des Unterrichts

Urbane Einblicke

Tbilisi ist eine Stadt mit einer faszinierenden Mischung aus Antike, Moderne und vielem dazwischen. Modernste Architektur führt in einen alten Stadtteil mit stark orientalischem Charakter. Die Aussenbezirke glänzen mit hohen, lieblosen und vernachlässigten Plattenbauten. Die Innenstadt pulsiert und lebt, farbenfroh und sympathisch.

Hier geht eigentlich von nichts und niemandem ausser den Autos eine Gefahr aus. Tbilisi gilt als eine der sichersten Metropolen der Welt, weshalb wir unsere Mädchen sogar abends und unbegleitet in die Stadt gehen liessen, um Freunde zu treffen. Wir hatten nie ein unsicheres Gefühl – im Unterschied zu so manch anderer Stadt, die wir bereist oder bewohnt hatten.

Taxi und U-Bahn sind in Tbilisi die ratsamsten Verkehrsmittel. Beide sind extrem billig und ziemlich zuverlässig, auch wenn wir manchmal den Weg besser kannten als die Fahrer. Ausserdem lässt sich Tbilisi auch ganz gut zu Fuss erkunden. Wir entdeckten Hinterhöfe, wo zwischen grauen Toren ein leuchtend bunter Eingang strahlte, abbruchreife Häuser neben frisch renovierten, Balkone, die mit einer Mauer und einem Fenster versehen waren, um den Wohnraum zu erweitern, sowie massenweise Hunde. Sie leben friedlich auf der Strasse, begleiten einen potenziellen Futterspender für kurze Zeit oder lassen sich streicheln. Eine gelbe Marke im Ohr kennzeichnet kastrierte Rüden – das sind die meisten.

Auch gemeinsame abendliche Streifzüge durch die Stadt und in die reichhaltige musikalische Welt, die dort geboten wird, waren wundervolle Erlebnisse. Für wenig Geld durften wir Musik in Weltklasseformat im Rahmen der Konzertreihe «Tbilisi Autumn» geniessen. Später im Jahr haben wir für umgerechnet 100 Franken zu viert einem Ballett in der Staatsoper und – als Highlight – einer georgischen Oper beigewohnt, die traditionell um die Weihnachtszeit aufgeführt wird. Kulturell ist Tbilisi unglaublich reich.

Mzcheta Kirche, ein faszinierendes religiöses Bauwerk
Lokales Wahrzeichen: die Freundschaftsbrücke
Herzerwärmende Strassenübergänge

Kulturelle Einblicke

Georgien ist seit vielen Jahrhunderten ein Treffpunkt von West und Ost, Orient und Okzident, geprägt durch Handelsaktivitäten und die Versorgung der Reisenden. Zweige der Seidenstrasse durchziehen das Land. Eingeklemmt zwischen vielen Mächten, war es schon immer kriegerisch gesinnt. Die Geschichte zu studieren lohnt sich.

Kulturell waren vier grosse Themenbereiche in Georgien für uns wichtig. Für Gäste wie uns war die wichtigste Tugend wohl die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Georgierinnen und Georgier. Der Gast kommt von Gott und wird entsprechend behandelt – für uns oft beschämend angesichts der unglaublich reichhaltigen und liebevoll hergerichteten Festmahle. Und auch die Hingabe, mit welcher einem Gast die Hand gereicht wird bei der Überwindung jeglicher denkbarer Hürden, die sich einem in den Weg stellen könnten, war faszinierend. Der Start wurde uns dadurch wesentlich erleichtert. Die Georgierinnen und Georgier, an die wir von Schweizer Bekannten vermittelt worden waren, luden uns kurzerhand zur abschliessenden Weinernte mit allen Festlichkeiten ein – Widerrede zwecklos.

Die fantastischen Festmahle werden gerne mit folkloristischen Darbietungen untermalt. Es wird viel gesungen oder eine traditionelle Tanzeinlage verschönert das Beisammensein. Zu jedem Glas des traditionell in sogenannten Kwevri gekelterten Weins werden lange – festgelegte – Segen gesprochen.

Während unseres Aufenthalts wurde der wichtige georgische Tanz zum Streitpunkt, weil der Film «And then we danced» über ein homosexuelles georgisches Tänzerpaar in die Kinos kam. Dieser hat insbesondere seitens der Kirche zu einem Aufschrei der Empörung und zu lautstarken Auseinandersetzungen in der Nähe unserer Wohnung geführt. Dies leitet zu einem anderen kulturellen Thema über, das uns die Unterschiede bezüglich vieler zwischenmenschlicher Aspekte verdeutlichte: In Georgien haben die Menschen eine sehr konservative Einstellung. Männlichkeit und Stärke sind zentral und in dieser Tradition werden Söhne auch heute noch erzogen. Die Folgen zeigen sich beim Autofahren, bei der mangelnden Performance während der Ausbildung und in vielen anderen Bereichen. Die Frauen gelten als sehr schön, aber spröde, weil sie sich sonst nur schwer der Avancen erwehren könnten. Sie werden jedoch nicht unterdrückt – wie man meinen könnte –, sondern besitzen ganz im Gegenteil ein hohes Selbstbewusstsein und Stolz. So sind in Berufen mit hohem Bildungsniveau denn auch viel mehr Frauen als Männer vertreten. Der Grund ist einfach: Die Männer zeigen zu wenig Engagement in der Schule und beim Studium. Diese Sätze pauschalisieren die Situation natürlich stark, sie wurden uns aber im Gespräch mit georgischen Freunden so bestätigt.

Eine grosse Verbundenheit zeigen die Georgierinnen und Georgier mit ihrer Religion. Dies ist in allen Lebenslagen spürbar. So wie bei der Segnung des Weins bekreuzigt sich jeder Taxifahrer, wenn er an einer der vielen Kirchen oder einem der zahlreichen Schreine vorbeifährt. Das können auf einer sieben Kilometer langen Tour gerne fünf bis sechs Kreuze werden.

Strassenhunde gehören zum Stadtbild
Süssigkeiten, wohin das Auge reicht
Reiche Schätze auf dem Markt

Abschliessende Gedanken

Die Zeit in Georgien war extrem lehrreich. Man schätzt plötzlich wieder Dinge, die einem sonst so selbstverständlich vorkommen, und nimmt dafür gerne auch eine gewisse «Bünzlichkeit» in Kauf. Auf der anderen Seite fehlt bei uns die spontane Gastfreundschaft, die oft eine immense Hilfe darstellen kann.

Es gibt in Georgien viele talentierte Leute – technisch-naturwissenschaftlich, aber auch musikalisch, sportlich und tänzerisch. Doch die patriarchalische Kultur hat zur Folge, dass viel Potenzial brachliegt.

Ein kleiner Teil von uns wird wohl immer in Georgien bleiben, so wie immer ein Teil von mir dort geblieben ist, wo ich längere Zeit gelebt und gearbeitet habe. Aber Georgien ist speziell, weil es so völlig anders ist als mein gewohnter Kontext, obwohl gerade Tbilisi vielerorts so europäisch wirkt und orientiert ist.