Eisflächen von Naturseen berechenbarer machen
In den vergangenen Wintersaisons wurden die Aktivitäten auf den gefrorenen Seen des Oberengadins von tragischen Vorfällen überschattet, welche die empirische Methode zur Freigabe der Seen in Frage stellten. Deshalb wird das Deformations- und Bruchverhalten von Seeeis in Feld- und Laborversuchen genauer untersucht.
Text: Dr. Seraina Braun, Barbara Krummenacher, Prof. Dr. Imad Lifa, Max Witek / Bild: Jutta Würth / Film: Simona Caminada / SRF
In der kalten Jahreszeit finden diverse Aktivitäten auf gefrorenen Seen statt, so auch auf den Oberengadiner Seen (z. B. Loipenführung, White Turf). In den vergangenen Wintern haben immer wieder warme Perioden die Berechenbarkeit der Seeeis-Tragfähigkeit erschwert, obwohl die Nutzung der gefrorenen Seen nicht an Attraktivität verlor, ganz im Gegenteil.
Die Wintersportanlässe auf den Oberengadiner Seen haben eine lange Tradition und sind touristisch von grosser Bedeutung. In den vergangenen Jahren häuften sich Situationen mit ungünstiger Eisentwicklung auf den Seen. Ob dies bereits erste Auswirkungen des prognostizierten Klimawandels sind, kann im Moment nicht zuverlässig beurteilt werden.
Es herrscht Einigkeit, dass es sich lohnt, die zur Erhaltung dieser Anlässe notwendigen Massnahmen zu ergreifen. Durch die koordinierte Zusammenarbeit der beteiligten Gemeinden Bregaglia, Sils, Silvaplana und St. Moritz konnten in den letzten beiden Jahren bereits wesentliche Verbesserungen erzielt werden. Es zeigte sich aber auch eindeutig, dass Wissenslücken bestehen und noch keine konkrete Strategie vorliegt. Im Rahmen des von allen Seegemeinden beschlossenen und vom Kanton unterstützten Projekts «Klimaanpassungsstrategie Seeeis» soll bis Ende dieses Jahres ein geeigneter Weg für den Umgang mit den dort herrschenden Klimabedingungen gefunden werden.
Sicherung der touristischen Nutzung
Mit einer umfassenden Klimaanpassungsstrategie soll die touristische Nutzung der winterlichen Eisdecke der Oberengadiner Seen auch unter wärmeren Klimabedingungen bestmöglich gesichert werden. Hierzu muss das Verhalten der Oberengadiner Seen hinsichtlich Eisbildung und Tragfähigkeit bei unterschiedlichen Lastfällen besser verstanden werden, um daraus Aussagen für die Nutzung der gefrorenen Seen auch unter wärmeren Klimabedingungen ableiten zu können.
Aus diesem Grund wurde das Institut für Bauen im alpinen Raum (IBAR) von den Projektleads Academia Engiadina und AF Toscano mit einbezogen, um das Deformationsverhalten von Seeeis im Labor und im Feld zu untersuchen. Es sollte also eine Methode entwickelt werden, welche anhand der Deformation und Eisdicke auf die Belastungsfähigkeit des Eises schliessen lässt.
Dehnungs- und Bruchverhalten von Eis
Um das Dehnungs- und Bruchverhalten von Eis zu studieren, können mittels Laborversuchen die physikalischen Eigenschaften einer Eisdecke – wie zum Beispiel ihre Biegefestigkeit, Druckfestigkeit, Kriechdehnung und Elastizität – ermittelt werden. Literaturrecherchen ergaben, dass die genannten physikalischen Eigenschaften von Eisschichten bereits ermittelt worden waren. Diese Werte weisen allerdings eine breite Streuung auf.
Die Verformung der Eisdecke des St. Moritzersees wurde während der White-Turf-Veranstaltung 2017/2018 mittels Messpegel von einem festen Punkt aus (am Seeufer) erfasst. Zahlreiche Messungen wurden zu unterschiedlichen Zeiten und bei verschiedenen Lastfällen durchgeführt.
Ursprünglich war geplant, aus dem Seeeis passende Balken auszuschneiden und diese dann im Baulabor der FH Graubünden einer Biegeprüfung zu unterziehen. Die Ausführung wäre jedoch sehr aufwändig geworden, da die Proben tiefgekühlt in einem gepolsterten Behältnis hätten transportiert werden müssen, um die Prüfkörper nicht zu beschädigen.
Deshalb entschied man sich, die Prüfungen direkt vor Ort auszuführen. Im Frühjahr 2018 wurden Kragbalken in das Eis geschnitten und mittels eines speziellen Prüfaufbaus – basierend auf einer Ankerzugprüfmaschine – an Ort und Stelle geprüft. Die Stelle für die Vorversuche wurde der FH Graubünden präpariert zur Verfügung gestellt und befand sich etwa 40 Meter vom Seeufer entfernt. Für den Prüfkörper wurde eine Eisdicke von 65-70 Zentimetern gemessen. Es wurden 3,5 Meter lange Kragbalken mit einer Breite von ca. 70 Zentimetern herausgeschnitten. Mit der Ankerzugmaschine des IBAR konnten Zugversuche am mehreren Standorten erfolgreich durchgeführt werden.
In einem weiteren Schritt ist nun geplant, Belastungsversuche im Feld durchzuführen. Von besonderem Interesse ist das grossflächige Verhalten der gesamten Eisschichtplatte unter Belastung, insbesondere die vertikale Deformation.
Für den Aufbau der Versuchsanlage wird die Eisfläche vom Schnee befreit, damit die Rissbildung genau gefilmt werden kann. Nach dem Versuchsaufbau erfolgt die schrittweise Aufbringung der Last mittels Betonelementen à 1300 Kilogramm, welche mit einem Autokran platziert werden. Die maximale Auflast beträgt ca. 10'000 Kilogramm pro Quadratmeter. Die grossflächige vertikale Verformung der Eisdecke wird während der Lastaufbringung mittels Lasermessungen der Höhendifferenz an definierten Bezugspunkten gemessen.
Nach jeder Belastungsstufe wird die vertikale Deformation der Eisdecke mit der beschriebenen Methode gemessen. Die Belastung erfolgt bis zum Bruch. Nach Beendigung des Versuchs werden die Betonelemente im Sommer wieder herausgeholt. Dieser Belastungsversuch ist für den Winter 2018/19 geplant, wenn die Eisschichtdicke ca. 30 Zentimeter beträgt.
Mit einer Schwarzeisschicht zum Ziel
Die Biegezugfestigkeit betrug bei den auswertbaren Prüfungen im Mittel etwa 0,5 Megapascal, was sich im Spektrum der Literaturwerte eher am untersten Limit befindet. Die Gründe hierfür hängen vermutlich mit dem Schichtaufbau und den eher hohen Temperaturen (verglichen mit Skandinavien, Russland und Alaska) zusammen. Auch die Elastizitätsmodule wurden im unteren und damit ungünstigen Bereich der Literaturwerte ermittelt, nämlich bei 0,45 bis 4 Gigapascal.
Im Herbst 2018 wird am Silsersee gemeinsam mit der Seeeiskommission ein Versuchsfeld für die Belastungsversuche freigelegt. Die Eisfläche sollte von Anfang an frei von Schnee gehalten werden, um die Bildung einer möglichst durchgehenden Schwarzeisschicht zu ermöglichen, welche die Beobachtung der Rissbildung gewährleistet. Wenn es die Verhältnisse zulassen, können auch noch weitere Felder für Biegezugversuche definiert werden, um weitere Daten zur Biegezugfestigkeit und Elastizität zu erhalten.
«Mit dieser Klimaanpassungsstrategie sollen die Eisflächen von Naturseen berechenbarer werden.»
Prof. Dr. Imad Lifa, Leiter des Instituts für Bauen im alpinen Raum (IBAR)
Beitrag von
Dr. Seraina Braun
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Bauen im alpinen Raum (IBAR)
Barbara Krummenacher
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Bauen im alpinen Raum (IBAR)
Prof. Dr. Imad Lifa
Leiter, Studienleiter, Institut für Bauen im alpinen Raum (IBAR)
Max Witek
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Bauen im alpinen Raum (IBAR)