Von einer Notwendigkeit zum Genuss
Kastanienbäume und ihre Früchte haben im Bergell eine lange Tradition. Die Selven zwischen Soglio und Castasegna gelten als eines der Wahrzeichen des Tals. Die Verarbeitung der Nussfrüchte, wie sie im Val Bregaglia zelebriert und gepflegt wird, wurde gar in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Schweiz aufgenommen. Traditionen rund um die wandelbare Frucht gibt es viele, doch wie wird in diesem Zusammenhang mit Fortschritt umgegangen?
Text: Onna Rageth / Bilder: Bregaglia Engadin Turismo
Um die Traditionen rund um die Pflege der Kastanienhaine sowie die Ernte der Edelnuss vor dem Vergessen zu retten, wurde 2006 im Bergell der Verein der Kastanienbäuerinnen und -bauern «Associazione Castanicoltori» ins Leben gerufen. Manuela Filli übernimmt als Präsidentin bereits seit einem Jahrzehnteine eine für das Bündner Südtal zentrale Rolle. Sie koordiniert die Belange des Vereins, welcher mehr als 100 Mitglieder zählt, orchestriert die Organisation der «Festa della Castagna», dem zentralen Anlass während des dreiwöchigen Kastanienfestivals, und sie sorgt sich um Traditionen rund um die Kastanienernte.
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Setzt sich mit Passion ein: Manuela Filli ist seit 2014 Präsidentin von Associazione Castanicoltori.
«Als wir eine mechanische Schälmaschine einführten, hatte ich die Befürchtung, wir würden unsere eigenen Traditionen köpfen», sagt Manuela Filli. Natürlich seien auch die Traditionen rund um die Kastanien im Bergell immer wieder mit Fortschritt und Veränderungen konfrontiert. So habe sich sogar die Sichtweise der Bergeller Bevölkerung auf «ihre» Kastanien in jüngster Geschichte gewandelt. Noch vor weniger als 100 Jahren galten sie als Grundnahrungsmittel und damit Lebensgarant – heute haben sie eine andere Bedeutung: «Die Kastanien, deren Pflege und Ernte bringen uns gesunde Aktivität im Freien, wir zelebrieren Geselligkeit und gleichzeitig hat sich ihr Konsum zu einem Genussmittel gewandelt.» Dennoch schwingt ein wenig Nostalgie mit, als Manuela Filli die zuvor zitierte Schälmaschine erwähnt. Denn traditionell werden die Früchte manuell geschlagen, um sie von ihrer braunen Schale zu befreien. Eine zeitintensive und körperlich anstrengende Arbeit. Nicht mehr viele Menschen waren bereit, diese harte Arbeit auf sich zu nehmen. Ein Wandel von einer agrar- zu einer dienstleistungsorientierten Gesellschaft. Die Kastanienbäuerinnen und -bauern waren früher hauptberuflich Landwirtinnen und Landwirte. Deshalb war die Kastanienernte eine zusätzliche, aber nicht artfremde Arbeit, die im Herbst anstand. Heutige Kastanienbäuerinnen und -bauern verstehen ihr Handwerk oftmals als Passion.
Erst als die Kastanien nicht mehr Notwendigkeit, sondern Genuss waren, rückte ihr Wert wieder ins Bewusstsein der lokalen Bevölkerung. «Die Gründung unseres Vereins ist genau darauf zurückzuführen, die Rückbesinnung auf diesen identitätsstiftenden Wert. Verbindendes Element unter den Mitgliedern ist die Liebe zu den Kastanien und damit zusammenhängend auch der Wunsch, unsere Kultur auch ausserhalb des Bergells bekannt zu machen.» Damit beschreibt Manuela Filli die Bestrebungen, das Bündner Südtal via Standortmarketing auf die mentale Mindmap von Gästen zu bringen und damit als kleinen, aber feinen Ferienort zu vermarkten.
Gelebte Traditionen, auch im 21. Jahrhundert
Damit das Wissen um das Schlagen der Kastanien nicht verloren geht, werden Kompromisse gesucht, wie Manuela Filli erklärt: «Es war mir wichtig, dieses Handwerk an meine Kinder weiterzugeben. Genauso, wie ich es von meinen Eltern gelernt habe. Dadurch bleibt das Wissen erhalten und technologische Neuerungen werden nicht verneint. Zudem durften wir schöne Projekte im hiesigen Kindergarten durchführen, damit auch diejenigen Kinder, die die Traditionen rund um unsere Kastanien nicht zu Hause mitbekommen, eingebunden werden. Damit haben wir gute Erfahrungen gemacht, zumal wir Traditionen vermitteln, ohne die Bedürfnisse von heute zu ignorieren. Wir haben unsere Traditionen nicht aufgegeben, sondern vielmehr adaptiert.»
Die Vermittlung des Wissens rund um die Edelnüsse konnte ausserdem in einem grösser angelegten Projekt auf den gesamten Kanton Graubünden ausgeweitet werden. «Wir haben 20 Primarschulklassen zu uns in die Val Bregaglia eingeladen. Sie konnten während eines Tagesausfluges den zwei Kilometer langen Kastanienlehrpfad von Castasegna nach Brentan ablaufen und dabei viel über unser immaterielles Kulturerbe lernen», schildert Manuela Filli stolz.
Zusammenarbeit mit dem Bregaglia Lab
Der Bergeller Kastanienwald umfasst mehr als 1'300 Bäume –Tendenz steigend. Die Kastanienbäume und das dazugehörende Land werden selten verkauft oder verpachtet. In den meisten Fällen werden sie von Familienmitglied zu Familienmitglied vererbt – ganz traditionell.
Traditionell ist auch der Calendamarz, der 1. März, der im Bergell gefeiert wird. «Es ist ein überaus wichtiger Tag, an dem der Winter offiziell verabschiedet und der Frühling lautstark begrüsst wird», sagt Manuela Filli. So wird der Übergang einer Jahreszeit zur nächsten zelebriert. Spannenderweise nimmt auch hier die Kastanie eine prominente Rolle ein, zumal an dem Feiertag traditionellerweise «Castegna da Calendamarz» genossen werden. Die in Wasser gekochten Kastanien werden mit Schlagrahm und Speck aufgewertet und bilden ein nahrhaftes Menü. Für viele Einheimische ist dieses Gericht unwiderruflich mit ihrer Kindheit verbunden. Für auswärtige Gäste ist das Gericht jedoch meist eine unbekannte Kreation.
Wissenschaft trifft Praxis für nachhaltigen Tourismus im Bergell
Die touristische Einbindung von Gästen im Bergell ist zentrale Aufgabe der Destinationsmarketingorganisation Bregaglia Engadin Turismo. Seit Mai 2022 unterhält die Fachhochschule Graubünden mit der fusionierten Gemeinde Bregaglia und damit auch Bregaglia Engadin Turismo eine Zweigstelle in Stampa, das sogenannte Bregaglia Lab. Ziel ist es, gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung an Problemstellungen sowie Herausforderungen zu arbeiten, indem Wissenschaft und Praxis auf innovative Weise kombiniert werden. Und dies genau dort, wo die Herausforderungen geografisch auch auftreten. Folglich können durch die räumliche Nähe gewinnbringende Synergien entstehen, die der Allgemeinheit zugutekommen sollen.
Rezept
Castegna da Calendamärz
- 600 g gedörrte Kastanien
- Wasser
- 250g gerauchte Speck
- 1EL eingesottene Butter
- Salz und Pfeffer
Über Nacht einweichen. Alle Zutaten während ca.3 Std langsam kochen; ev. Wasser beifügen die Kastanien isst man mit Schlagrahm das Gericht passt auch zu Rotkraut, Fleisch oder Wintersalaten; der Pfeffer hilf beim Verdauen.
Quelle: La Nossa Storia - Società femminile Bregaglia Sottoporta
Video: «Nella cucina della signora Cristina Giovanoli a Vicosoprano»
Beitrag von
Onna Rageth, Leiterin Bregaglia Lab, Wissenschaftliche Projektleiterin, Institut für Tourismus und Freizeit