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Neue Wege im Spracherwerb gehen
Neue Wege im Spracherwerb gehen

Neue Wege im Spracherwerb gehen

Die Virtual-Reality-Anwendung «Viagg-io» entführt Lernende virtuell ins Tessin und das Italienischbünden. Statt nur Vokabeln zu pauken, tauchen Anwenderinnen und Anwender direkt in die italienische Sprache und auch die Kultur ein – als wären sie vor Ort, in einem Caffè oder an einem lebendigen Gespräch. Möglich wird dieses immersive Sprachlernen durch die innovative Verbindung von modernster Technologie und multimedialer Didaktik am Institut für Multimedia Production. Klassischer Unterricht und interaktives Erlebnis werden vereint.

Text: Elisa Desiree Manetti, Elke Schlote / Bilder: FH Graubünden, SUPSI

In einer Welt, in der die Grenzen zwischen der digitalen und der realen Erfahrung zunehmend verschwimmen, eröffnen sich auch neue Horizonte für das Erlernen von Fremdsprachen. Digitale Möglichkeiten bieten Lernenden nicht nur die Chance, neue Vokabeln und Grammatik zu meistern, sondern ermöglichen es, in lebendige Sprachwelten einzutauchen, die sonst nur durch Reisen zugänglich wären. Eine dieser Innovationen ist die Virtual-Reality-Anwendung «Viagg-io». Sie ermöglicht es, das Tessin und Italienischbünden auf eine völlig neue Weise zu entdecken. Gewissermassen aus dem Schulzimmer «zum Caffè ins Italienischbünden» – ermöglicht durch die Verknüpfung von neuer Technik mit multimedialer Sprachendidaktik. 

Anders als andere Sprachtools

Dank der Fortschritte im maschinellen Lernen und der künstlichen Intelligenz (KI) wurde eine Reihe von Sprach-Lernanwendungen entwickelt wie beispielsweise die beliebte App «Duolingo». Es gibt aber mittlerweile bereits auch Virtual-Reality-Anwendungen wie zum Beispiel «ImmerseMe» oder «Mondly». 

Die einzigartige Erfahrung der immersiven Virtual Reality lässt sich schwer beschreiben und sollte daher selbst erlebt werden. Die Beschreibung, was Virtual Reality technisch ausmacht, ist einfacher: immersive Virtual Reality verwendet präzise Echtzeit-Bewegungserfassungsgeräte und leistungsstarke Grafikprozessoren, um kontinuierliche stereoskopische Bilder auf einem kopfgetragenen Display darzustellen. In Kombination mit fesselnden Erzählungen oder überzeugenden Kontexten kann die Immersive-Virtual-Reality-Technologie die Illusion vermitteln, dass die Benutzerinnen und Benutzer mit 3D-Objekten in einer virtuellen Umgebung genau gleich wie in der realen Welt interagieren. Im interdisziplinären Projekt «Viagg-io» untersuchen Forschende diese Qualitäten von immersiver Virtual Reality in Kombination mit interaktivem Storytelling für das Sprachenlernen.

Das Projekt «Viagg-io» (der Name ist eine Anspielung auf die italienischen Wörter viaggio [«ich reise» oder «die Reise»] und io [«ich»], was die zentrale Rolle des Lernenden während der gesamten immersiven Erfahrung impliziert) wird am Institut für Multimedia Production als Werkzeug für die sprachliche und kulturelle Immersion konzipiert. Das Konzept unterscheidet sich von bestehenden Angeboten durch die Integration einer multilinearen Erzählweise von kulturellen Inhalten und Interaktionsformen in der virtuellen Realität, die der Erfahrung einer Reise oder eines Schüleraustauschs entsprechen.

Lernmaterialien für Italienisch als Fremdsprache, die (nicht nur) in Schweizer Klassenzimmern verwendet werden, eignen sich nur bedingt, um die mündliche Ausdrucksfähigkeit und die Interaktion in einer grösseren Vielfalt von sozialen Situationen mit authentischen Dialogen zu verbessern. Zudem fehlt in den erwähnten bestehenden Virtual-Reality-Anwendungen oft der kulturelle Aspekt. «Viagg-io» kann deshalb ergänzend zum Unterricht eingesetzt werden.

Auszug einer Visualisierung der immersiven Virtual Reality: Bei der Zubereitung eines Steinpilz-Risottos in einem typischen Grotto können Lernende Hand anlegen.
Auszug einer Visualisierung der immersiven Virtual Reality: Bei der Zubereitung eines Steinpilz-Risottos in einem typischen Grotto können Lernende Hand anlegen.
Das Entwicklerteam um Reto Spoerri und Nadine Ganz testet den Prototypen im Medienhaus.
Das Entwicklerteam um Reto Spoerri und Nadine Ganz testet den Prototypen im Medienhaus.
Ein späterer Nutzungskontext von «Viagg-io» ist der Italienischunterricht an Deutschschweizer Mittelschulen, hier mit Teammitglied Ines Honegger Wiedenmayer vom Gymnasium Kirchenfeld in Bern.
Ein späterer Nutzungskontext von «Viagg-io» ist der Italienischunterricht an Deutschschweizer Mittelschulen, hier mit Teammitglied Ines Honegger Wiedenmayer vom Gymnasium Kirchenfeld in Bern.
Über das Streaming auf einen Bildschirm lässt sich miterleben, was die Person in der immersiven Virtual Reality macht
Über das Streaming auf einen Bildschirm lässt sich miterleben, was die Person in der immersiven Virtual Reality macht

Auch die Kultur rückt in den Fokus

Die Orte in den beiden Regionen, die für die immersive Erfahrung ausgewählt wurden, sind Bellinzona im Tessin bzw. die Val Mesolcina, Val Bregaglia und Val Poschiavo in Graubünden. Die Reise beginnt, wenn die Lernenden den Bahnhof von Bellinzona erreichen. Dort steht die Entscheidung an, ob die Castelli (UNESCO-Kulturerbe) bei einem Picknick erlebt werden sollen, ob Risotto in einem typischen Grotto in der Val Mesolcina gekocht oder ob in die Val Poschiavo weitergereist werden soll.

Der oder die Lernende entscheidet und wird von einer jungen Studentin namens Francesca, die sowohl im Tessin als auch in Graubünden aufgewachsen ist, durch die Erfahrung begleitet. Francesca ist eine Freundin, sie ist ungefähr im gleichen Alter wie die Lernenden und korrigiert die Antworten nicht. Das macht es für die Lernenden leichter, mit ihr zu sprechen, weil sie sich weder eingeschüchtert noch beurteilt fühlen.

Die erste Idee für die Entwicklung der Szenarien stammt aus der Schule, denn in der Deutschschweiz werden das Tessin und Graubünden oft für Ausflüge gewählt. Die immersive Erfahrung von «Viagg-io» ist eine Art Übungsfeld in einer sicheren Umgebung. Die Lernenden steuern die Szenarien durch die italienische Sprachverwendung selbst. Das macht die Reise interaktiv und spannend.

Lernen mit echten Schauspielerinnen und Schauspielern sowie Chatbots

In «Viagg-io» bestimmen die Lernenden, in welche Richtung einige der Gespräche gehen. Bei den Personen, auf die die Lernenden in der immersiven Virtual Reality treffen, handelt es sich um echte Personen. Es sind lokale Schauspielerinnen und Schauspieler, deren Bild, Körpersprache und Stimme mithilfe von volumetrischer Videotechnik in die virtuelle Welt «transportiert» wurden. Dadurch entsteht der Eindruck, mit einer realen Person zu sprechen.

In jedem Szenario sind zwei Arten von Interaktionen möglich: ein Gespräch zwischen den Lernenden und Francesca, aber auch zwischen den Lernenden und anderen Personen wie Francescas Oma oder dem Kellner des Grottos. Auch eine nicht-aktive Teilnahme, also nur Zuhören, ist in einigen Szenen möglich. Für eine weitere Art der Interaktion ist ein KI-Chatbot geplant, mit dem ein freies Gespräch geführt werden kann. Während der gesamten «Viagg-io»-Erfahrung werden die Lernenden nicht beurteilt oder korrigiert. 

Authentisches Lernen und neue Motivation durch virtuelle Reisen

Nach Ansicht der Forschenden und aus der Erfahrung mit Vortests mit Italienischlernenden am Gymnasium Kirchenfeld in Bern hat dieser Ansatz mehrere Vorteile. Erstens tauchen die Lernenden nicht nur in die Sprache, sondern auch in die lokale Kultur ein und interagieren mit authentischen Sprecherinnen und Sprechern. Zweitens bewegen sich die Lernenden eigenständig durch die sozialen Situationen und können ihre eigenen Fähigkeiten einsetzen. Schliesslich dient diese Art von Übung als Motivation. Die Erkenntnis, dass Alltagssituationen (mit Sprachniveau A2) bewältigt werden können, wird im Idealfall das Sprachenlernen positiv beeinflussen – und eine echte, reale Reise schmackhaft machen.

Die nächsten Schritte des Projekts «Viagg-io» sind eine Testphase in Klassenzimmern und das Zusammenführen der Erkenntnisse auf technischer sowie didaktischer Ebene. Ab diesem Jahr wird ein Ausleihkonzept erstellt, sodass Lehrpersonen in der Deutschschweiz Halbklassensätze mit VR-Brillen und der «Viagg-io»-Anwendung bestellen können. Auch an Bibliotheken, Kulturinstitutionen und interessierte Privatpersonen wird «Viagg-io» kostenfrei abgegeben.

Beitrag von

Elke Schlote, Dozentin, Institut für Multimedia Production