Menu
Wissensplatz
Gemeinden und ihr Milizsystem im Wandel
Gemeinden und ihr Milizsystem im Wandel

Gemeinden und ihr Milizsystem im Wandel

Der Milizgedanke und die starke Verankerung der politischen Verantwortung in der breiten Bevölkerung sind tragende Elemente des politischen Systems in der Schweiz – besonders in der Gemeindepolitik. Viele Gemeinden haben allerdings Mühe, ihre Gemeindebehörden mit geeigneten Kandidierenden zu besetzen. Dies setzt das Schweizer Milizsystem unter Druck.

Text: Dario Wellinger / Bild: FH Graubünden

«Er will nicht, aber muss», «Demokratie ist ein Chrampf» und «Gemeindepolitik am Anschlag?» lauten die Schlagzeilen in nationalen Zeitungen der letzten Monate. In der Gemeinde Wassen (UR) muss ein Gemeinderat wider Willen ein Gemeinderatsamt übernehmen, weil es keine Kandidierenden gibt. Im Kanton Graubünden macht ein amtierender Gemeindepräsident weiter, obwohl er bereits seinen Rückzug angekündigt hatte – ebenfalls mangels Kandidierender. Ein anderer Bündner Gemeindepräsident tritt zurück, weil der Umgang mit Mandatsträgern in der Gemeinde zu rabiat geworden ist. Bei diesen Vorkommnissen stellt sich die Frage, war das immer schon so? 

In den über 2’100 Schweizer Gemeinden engagieren sich nahezu 13’000 Personen in Gemeindeexekutiven und nochmals geschätzte 100’000 Personen in Gemeindeparlamenten, Schulbehörden und Kommissionen. Die Vorteile eines bürgernahen politischen Systems liegen insbesondere darin, dass Politikerinnen und Politiker nahe an der Lebensrealität der Bürgerinnen und Bürger sind und zum anderen ihre Erfahrungen aus ihrem Berufsleben und ihrem persönlichen Werdegang in die politische Entscheidungsfindung zugunsten der Gemeinschaft einbringen können. Trotzdem haben zunehmend mehr Gemeinden Mühe, ihre Gemeindebehörden zu besetzen. 

An der FH Graubünden wurden in den vergangenen Jahren mehrere Projekte zur Erforschung des Schweizer Milizsystems in den Gemeinden durchgeführt. Die Studie PROMO 35 zeigt, dass 35 Prozent der Schweizer Gemeinden grosse Mühe damit haben, ihre Gemeindebehörden zu besetzen. Bei den Jungen zeigt sich gar ein verschärftes Bild: 70 Prozent der Gemeinden geben an, Schwierigkeiten zu haben, junge Leute für die Gemeindeexekutive zu finden.

Das Gremium wird älter

Gemäss dem neusten Gemeindemonitor 2023 ist der durchschnittliche Gemeinderat 54 Jahre alt. Damit ist das Durchschnittsalter seit der letzten Erhebung 2017 nochmals um zwei Jahre gestiegen. Auch der Anteil an Personen unter 45 Jahren ist wiederum weiter zurückgegangen. Waren es 2008 noch 24 Prozent, sind es heute noch 18 Prozent. Auch die Frauen sind mit einem Anteil von etwa einem Viertel stark untervertreten. Ein Umstand, mit dem sich unter anderem die Studie PROMO Femina auseinandersetzt. Die Studie PoliWork zeigt auf, dass die Vereinbarkeit von Milizarbeit mit Beruf, Familienarbeit und Freizeit eine grosse Herausforderung ist. Dies könnte erklären, warum junge Menschen und Frauen in den Exekutiven zunehmend weniger werden und stark unterrepräsentiert sind. Obwohl einige Grossunternehmen die politische Milizarbeit ihrer Angestellten proaktiv fördern, ist festzustellen, dass viele Unternehmen keine Teilzeitarbeit zur Verfügung stellen, oder können – eine zunehmend unabdingbare Voraussetzung für ein politisches Milizamt.

Sich deshalb auf die älteren Bevölkerungsteile zu berufen, die pensioniert sind oder es in den nächsten Jahren werden, wird das Rekrutierungsproblem vorderhand nicht lösen. Die Studie Plus 65 zeigt deutlich, dass nur ganz wenige Pensionärinnen und Pensionäre bereit sind, ein kommunales politisches Mandat zu übernehmen. Auch wenn es vereinzelt Fälle von Gemeindepräsidentinnen und ‑präsidenten sowie Gemeinderätinnen und -räte im Pensionsalter gibt – die grosse Mehrheit möchte die neu gewonnene Freizeit nicht in ein politisches Milizamt stecken. Es stellt ein frappierendes Paradoxon dar, dass das Gremium sukzessive einer demografischen Alterung unterliegt, während gleichzeitig die potenziell verfügbaren Pensionierten eine bemerkenswerte Zurückhaltung hinsichtlich eines aktiven Engagements an den Tag legen. Das Narrativ der überalterten Politik muss unter dem Gesichtspunkt teilweise revidiert werden.

Der Wandel der Milizarbeit

Die Rekrutierung war auch vor mehreren Jahrzehnten nicht immer einfach. So wurden früher ab und zu Personen in den Gemeindevorstand gewählt, die an der Gemeindeversammlung abwesend waren. In Graubünden wurde der «Amtszwang» mittlerweile abgeschafft. Die Kantone Zürich, Nidwalden, Appenzell Innerrhoden, Luzern, Solothurn, das Wallis und Uri kennen diesen nach wie vor. Und er kommt auch teilweise zur Anwendung. Aber was hat sich geändert, dass gefühlt die Rekrutierung und das Interesse an der politischen Arbeit in den Gemeinden abgenommen haben? Die Vereinbarkeit von politischem Amt und Beruf bzw. Familienarbeit ist schwieriger geworden, weil die Anforderungen in diesen Bereichen stark gestiegen sind. Die Professionalisierung (und Bürokratisierung) von vielen Politikbereichen ist auch auf der kommunalen Ebene zu spüren. Das braucht grössere Einarbeitungs- und Bearbeitungszeit. Hinzu kommt, dass die Bevölkerung mobiler geworden ist. Es wird länger gependelt, das Alltagsleben findet nur noch teilweise in der Wohngemeinde statt. Umrahmt wird dies durch ein abnehmendes Interesse an lokaler und regionaler Politik. Der Lokaljournalismus hat Auflagenschwund und viele lokale Informationen erreichen die Bevölkerung nicht mehr. Der Respekt vor Amtspersonen hat über die Jahrzehnte abgenommen. Die zunehmend (über)kritische Mitteilungsbereitschaft – gepaart mit zuweilen persönlich auf die Frau/den Mann gespielten angriffigen Kommentaren in den sozialen Medien – machen die Sache nicht einfacher.

Milizsystem quo vadis?

Es wäre falsch, beim Milizsystem von einem morbiden System zu sprechen. Schliesslich funktioniert es, wenn auch mit grossen Anstrengungen, flächendeckend. Aber wie die Forschungsarbeiten der FH Graubünden zeigen, braucht es moderne Akzente, um die Milizämter in die zeitgenössische Arbeitswelt zu überführen. Mit einer flexibleren Sitzungskultur, die beispielsweise auch eine Zuschaltung via Video-Call ermöglicht, wäre ein erster Schritt gemacht. Die Rekrutierung wird in Zukunft noch proaktiver erfolgen müssen. Die Parteien, die dies früher gemacht haben, leiden ebenfalls unter Mitgliederschwund. Man kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass an der Gemeindeversammlung schon jemand vorgeschlagen wird. Es wird auf Findungskommissionen aus der Zivilgesellschaft, von Vereinen oder privaten Gruppierungen hinauslaufen. Die Gemeinden müssen dabei stärkere Aufklärungsarbeit über die Gemeindeämter betreiben. Erste Beispiele haben auch in Graubünden stattgefunden, wo beispielsweise in Luzein an Informationsveranstaltungen die politische Arbeit nähergebracht wurde. Auch Jungbürgerfeiern und die Schulen können einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung und daher zur gezielten Nachwuchsförderung leisten.

Beitrag von

Dario Wellinger, Projektleiter, Zentrum für Verwaltungsmanagement