Bündner Traditionen lebendig halten
Die Kulturinstitution Origen sucht stetig nach Wegen, Geschichte und Moderne zu vereinen und kann dabei als Inspiration für Institutionen wie die FH Graubünden dienen. Viele ihrer Projekte zeigen, wie tief verwurzelte Traditionen durch innovative Ideen und kreative Umsetzungen nicht nur bewahrt, sondern auch neu erzählt werden können. Vom Post Hotel Löwe bis hin zum futuristischen Weissen Turm – Origen will das Überleben des Bergdorfs Mulegns sichern und setzt dabei auf das Weitererzählen von Geschichten.
Text: Seraina Zinsli / Bilder: Benjamin Hofer
Traditionen sind tief in der menschlichen Natur verwurzelt. Sie durchdringen das gesellschaftliche Leben, spiegeln Kultur wider und stärken das Gemeinschaftsgefühl, indem sie gemeinsame Werte und Identität schaffen. Weitergegeben werden sie oft in Geschichten, die über Generationen hinweg erzählt werden. «Traditionen sind geprägt von zeitlosen Elementen, die man meiner Meinung nach in die Gegenwart ‹übersetzen› muss», sagt Giovanni Netzer. Der Leiter der Kulturinstitution Origen sieht in alten Erzählungen demnach nicht nur einen Blick in vergangene Zeiten, sondern eine lebendige Verbindung zwischen Tradition und der fortwährenden Entwicklung von Kultur. Während sich die Geschichten laut Netzer in ihren Formen verändern können, bleiben die zentralen Themen dieselben. Origen stellt sich der Herausforderung, diese Geschichten zu bewahren und gleichzeitig neue Impulse zu setzen, um sie in die Gegenwart und Zukunft zu tragen. In Mulegns beispielsweise, einem kleinen Bündner Dorf mit weniger als 20 Einwohnerinnen und Einwohnern, hat die Kulturinstitution in der Vergangenheit gleich mehrere Projekte realisiert. Eines davon ist die Renovierung des Post Hotels Löwe. «Wir verstehen die Renovierung nicht nur als bauliche Massnahme, sondern als kulturelle Verantwortung», betont Netzer. Das Projekt zeige auf, wie sich Traditionelles im Laufe der Zeit immer wieder anders darstelle, während zentrale Themen wie Gemeinschaft, Werte und Respekt erhalten würden.
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In den historischen Mauern des Post Hotels Löwe haben Staatspräsidenten, Zarenwitwen, Nobelpreisträger und Kronprinzessinnen übernachtet. Es ist eines der ältesten Hotels Graubündens.
Neugestaltung als Brücke zwischen Tradition und Innovation
Das Post Hotel Löwe wurde nicht in einem Zug erbaut, sondern hat sich über Jahrzehnte hinweg entwickelt. So wurde der ursprüngliche Bau aus den 1830er-Jahren mit massiven Steinmauern etwa im Verlauf der Industrialisierung um eine Stahlkonstruktion erweitert. Dadurch erhielten alte Formen und Materialien eine neue Bedeutung, da sie in einen neuen Kontext gestellt wurden. Auch heute noch wird die Mischung aus traditioneller Bauweise und modernen Elementen widergespiegelt. «Das Hotel ist ein inspirierender Ort, an dem die Vergangenheit und die Gegenwart aufeinandertreffen. Es erinnert daran, dass Tradition und Innovation keine Gegensätze, sondern miteinander verbundene Elemente sind», so Netzer. Die Renovierung des Post Hotels Löwe sei aber auch ein Ausdruck kultureller Verantwortung. «Die alten Gästebücher des Hotels, in denen Namen von Gästen aus aller Welt verzeichnet sind, inspirierten die Neugestaltung von Zimmern, die an Städte wie Florenz, St. Petersburg, Helsinki oder Paris erinnern.» Diese neu interpretierten Räume seien nicht nur eine Hommage an die Geschichte des Ortes, sondern auch eine Einladung, die Geschichten der Vergangenheit auf eine frische, zeitgemässe Weise weiterzuerzählen.
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Hommage an die Geschichte des Hauses: Bei der Neugestaltung der Gästezimmer hat sich der Textildesigner Martin Leuthold von den alten Gästebüchern des Hotels inspirieren lassen. Die neuen Zimmer erinnern an die Herkunftsorte früherer Gäste (hier im Bild das Zimmer Turin).
Visionäres Projekt als architektonisches Experiment
Ein anderes Herzensprojekt in Mulegns transportiert die Geschichte der Zuckerbäckertradition des Kantons Graubünden in die Gegenwart. So habe die Erhaltung der Weissen Villa – einem herausragenden Beispiel für die Zuckerbäckerarchitektur – den Grundstein für die Entstehung eines visionären Bauprojekts mit der ETH Zürich gelegt.
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Durch eine spektakuläre Verschiebung konnte die Weisse Villa vor dem drohenden Abriss gerettet werden. Sie gehört zu den besterhaltenen Zuckerbäckervillen des Kantons Graubünden.
Inspiriert von der Extravaganz und dem handwerklichen Können der damaligen Zeit, stellte sich Giovanni Netzer die Frage: Wie würde ein Zuckerbäcker heute mit den technologischen Mitteln des 21. Jahrhunderts bauen? Die Antwort darauf fand sich in der Verbindung von traditioneller Baukunst mit 3D-Druck. «Durch die Anwendung von digitalen Drucktechniken soll der Weisse Turm in Mulegns zu einem Monument werden, das nicht nur auf die Vergangenheit des Ortes Bezug nimmt, sondern gleichzeitig die Zukunft des Bauens in Graubünden vorantreibt.» Durch weniger Beton und mehr Innovation nutzt Origen die Möglichkeiten des 3D-Drucks, um eine ressourcenschonende Bauweise zu fördern. So ist der Weisse Turm, gemäss Netzer, ein Symbol für die Verknüpfung von Geschichte, Innovation und nachhaltigem Bauen und gleichzeitig ein Bekenntnis zur digitalen Transformation der Region. «Als Emigrierende gingen die Zuckerbäckerinnen und Zuckerbäcker notgedrungen in die Fremde. Dort hatten sie viel gelernt, mussten mutig sein und hart arbeiten. Diese Geschichte der kühnen Bündner Emigrantinnen und Emigranten ist die Basis, die wir heute mit den neuesten Mitteln weitererzählen wollen.» So sei der Weisse Turm weit mehr als «nur» ein futuristischer Bau. Er ist fest mit der lokalen Geschichte und der Erinnerung an die berühmten Bündner Zuckerbäcker verbunden, die den ganzen Ort noch heute prägen.
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Mit dem Bau des Weissen Turms entsteht ein komplett digital gedruckter Turm, der die Geschichte der Bündner Zuckerbäcker neu interpretieren und als Ort für kleine Veranstaltungen dienen soll.
Kraft der Veränderung
Projekte wie das Post Hotel Löwe, die Weisse Villa und der Weisse Turm zeigen, wie Traditionen durch Geschichten weiterleben und durchaus neu interpretiert werden dürfen. «Kultur hat die Fähigkeit, etwas Schönes zu schaffen», so Netzer. Man solle den Wandel und die Entwicklungen über die Zeit nicht nur akzeptieren, sondern aktiv mitgestalten. Dabei sei es wichtig, sowohl die Vergangenheit zu würdigen als auch eine neue, zukunftsweisende Form des Lebens und der Kultur zu schaffen.
Giovanni Netzer ist Leiter und Gründer der Kulturorganisation Origen. Der 57-jährige Theaterintendant ist im Val Surses aufgewachsen und hat in Theologie, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft promoviert. Für sein kulturelles Engagement wurde Netzer bereits vielfach ausgezeichnet. Er erhielt unter anderem den grossen Kulturpreis des Kantons Graubünden und den Hans-Reinhart-Ring, die wichtigste Auszeichnung im Theaterschaffen der Schweiz.
Beitrag von
Seraina Zinsli, Redaktionsleiterin, Projektleiterin Hochschulkommunikation