Gemeinden, Quartiere und Landschaften gezielt entwickeln
Text: Daniel A. Walser / Bilder: FH Graubünden, Ralph Feiner
Seit über 30 Jahren ist Christian Wagner an der Architekturabteilung der FH Graubünden tätig. Von Anfang an hat er mit seinen Studierenden an realen Fragestellungen von und für Gemeinden gearbeitet. Durch den kontinuierlichen Kontakt sind viele raumplanerische und städtebauliche Fragestellungen entstanden, zum Beispiel: Wie könnten sich Dörfer und Siedlungen sinnvoll entwickeln? Daraus hat sich über die Jahre das sogenannte Baumemorandum entwickelt – ein Instrument zur Ortsbildentwicklung.
Seit vielen Jahren begleitet Christian Wagner Gemeinden als Bauberater. Diese Tätigkeit gibt ihm einen vertieften Einblick in die Funktionsweise des politischen Milizsystems. Entscheidungen werden im Konsens gefällt und sind bei Personalwechseln nach den nächsten Wahlen oft obsolet. Dies führt zu eher situativen als zu strategischen Entscheidungen in Bezug auf die Weiterentwicklung innerhalb der Gemeinden. Hinzu kommt das Unvermögen der meisten Gemeindevertreterinnen und -vertreter, architektonische und städtebauliche Qualitäten zu beurteilen. So hat in der Gemeinde Fläsch ein grundsätzlich bewilligbares Baugesuch für ein architektonisch und städtebaulich mangelhaftes Projekt einen grösseren Prozess ausgelöst – mit der Fragestellung: Wie kann man ein Instrument schaffen, das die angestrebte architektonische und städtebauliche Weiterentwicklung von Gemeinden präziser als ein unflexibles Baugesetz stützen kann?
Für Fläsch wurde gemeinsam mit der Bevölkerung und der Gemeinde eine verbindliche übergeordnete Entwicklungsstrategie festgelegt. Das Dorf traf die Entscheidung, ein «Weinbaudorf» zu werden. Damit dies gelingen konnte, mussten bei der Umsetzung die bestehenden Qualitäten von Fläsch gestärkt werden: Die Rebhänge durften nicht wie geplant mit Wohnbauten überbaut werden und die bestehende Baustruktur mit den ummauerten Gärten im Dorf musste erhalten bleiben. Durch die Verschiebung der Bauzonen an andere Orte innerhalb der Gemeinde wurde eine geordnete Entwicklung zum «Weinbaudorf» gewährleistet. Hierfür erhielt die Gemeinde 2010 den Wakkerpreis des schweizerischen Heimatschutzes.
Entwicklung des Baumemorandums für Disentis/Mustér
Daraufhin beschäftigten sich Christian Wagner und sein Team in der Gemeinde Disentis/Mustér mit einer ähnlichen, aber noch komplexeren Fragestellung: Wie kann sich die Gemeinde sinnvoll entwickeln, ohne ihre Qualitäten zu verlieren, wenn sie nicht ein kompaktes Gefüge ist, sondern aus 23 verschiedenen Quartieren und Fraktionen besteht? Disentis/Mustér besass damals zwar ein neues, erst 2008 verabschiedetes Baugesetz, doch war dieses Gesetz für alle Ortsteile gleich. Diese Rahmenbedingungen waren zu starr, um die Vielfalt der historischen Bausubstanz – bestehend aus normalen, neueren Wohnbauten, Jumbo-Chalets, Hotellerie, Gewerbebauten und Ferienhäusern – sinnvoll zu beurteilen.
Aus diesem Grund wurde das sogenannte Baumemorandum entwickelt – ein Gestaltungsleitfaden, der für jedes einzelne Gebiet und jede Zone die spezifischen Ziele und die vorherrschenden lokalen Ordnungsprinzipien zusammenfasst, auf die bei einem Entwurf geachtet werden sollte. So kann präzise auf die bestehende Vielfalt eingegangen werden und auch Potenziale werden klar benannt. Nicht detaillierte Vorschriften und Vorgaben stehen dabei im Vordergrund, sondern gestalterische und städtebauliche Ziele. Das Baumemorandum analysiert den Baubestand, eruiert die sich wiederholenden Grundprinzipien und beschreibt die typischen Merkmale eines Ortsbildes. Es ist ein «Leitfaden für Architekturqualität im Milizsystem», wie es die Zeitschrift Hochparterre formulierte. Es ist ein praktikables Instrument, um die Baukultur im Milizsystem zu fördern. Für die Entwicklung des Baumemorandums hat Christian Wagner 2012 den Stadtlandpreis erhalten. Es bildet eine Ergänzung zur baurechtlichen Ebene, indem es Baubehörden, Bauherrschaften und Architekturschaffenden als Gestaltungsleitfaden bei der Planung von Bauvorhaben dient. So können Siedlungsbilder erhalten und adäquat weiterentwickelt werden.
Bedeutung des ISOS für bauliche Entwicklungen
Im Zuge der nationalen Volksabstimmung zugunsten einer verstärkten baulichen Innenentwicklung und der Weiterentwicklung der schweizerischen Rechtsprechung erhielt das Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung, kurz ISOS, eine übergeordnete Bedeutung. Dieses Inventar des Bundes besitzt rechtlich eine hohe Gewichtung, der die Gemeinden folgen müssen. Das hat dazu geführt, dass das Ortsbild planerisch – aber auch politisch – zu einer zentralen Fragestellung geworden ist. Der Umgang mit dem ISOS bildet heute die Grundlage der meisten Arbeiten von Wagner. So hat Christian Wagner mit seinem Team in den Städten Zug und später auch Winterthur die Bedeutung des Ortsbildes aufgrund des ISOS weiter verfeinert und mit einem spezifischen Baumemorandum gestärkt. In Zug lag der Fokus auf der baulichen Weiterentwicklung der Stadt, in Winterthur auf denkmalpflegerischen Aspekten.
Digitalisierung und Weiterentwicklung
Seit Längerem arbeitet Christian Wagner mit Sandra Bühler zusammen. Die engagierte Architektin ist die treibende Kraft bei der Weiterentwicklung des Baumemorandums und der Transformation in Richtung digitales Zeitalter. So wird zurzeit in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Davos das Potenzial der digitalen Analyse von Orts- und Stadtbildern bestimmt.
Wagner betont immer wieder, dass es bei der Weiterentwicklung von Orten und Quartieren nicht darum gehe, «schöne Architektur» zu generieren, weil hierbei nicht der persönliche «Geschmack», sondern das öffentliche Interesse im Vordergrund stehe. Er unterstreicht: «Fakt ist vielmehr, dass Architektur und die Wahrnehmung von Architektur nicht nur individuelle Angelegenheiten sind, sondern dass Bauen (und Gestalten) ein Akt des öffentlichen Interesses ist und uns alle als Gemeinschaft betrifft. Die Veränderung unserer gebauten Umwelt hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch beschleunigt. In der Wahrnehmung eines Grossteils der Bevölkerung wird der Wandel unserer Dorfbilder als Verlust empfunden; das Gefühl von Heimat, Vertrautheit und Identität nimmt in diesem schnellen, globalen und komplexen Bauumfeld an vielen Orten kontinuierlich ab.» Dieser Entwicklung können nur klare Konzepte – wie das Baumemorandum – entgegenwirken.
Beitrag von
Prof. Daniel A. Walser, Dozent, Institut für Bauen im alpinen Raum