Spielerisch den Einfluss von Daten verstehen
Aufgrund von Naturgefahren entstehen weltweit hohe Sachschäden, die immer wieder auch Menschenleben kosten. Es ist davon auszugehen, dass der Klimawandel die Gefahrenlage zunehmend verschärft – auch im Kanton Graubünden. Der Schutz vor Naturgefahren ist nicht die Aufgabe einzelner, sondern ein Zusammenspiel mehrerer Akteure aus privat- und öffentlich-rechtlichen Organisationen. Neue Daten und Dienstleistungen können diesen Schutz weiter verbessern. Die Fachhochschule Graubünden unterstützt Industriebetriebe bei der Entwicklung solcher Lösungen.
Text: Jonas Ahnefeld, Patricia Deflorin / Bilder: Geobrugg AG
Die Herausforderung
Die Geobrugg AG bietet mit ihren Schutzbauten unter anderem Schutz vor gravitativen Naturgefahren wie dem Niedergang und Aufprall von Steinen oder Hangmuren, die sich aus einem Hang oder einer Felswand lösen können. Geobrugg hat erkannt, dass der Schutz weiter erhöht werden kann, wenn die rein physikalisch-technische Wirkung solcher Verbauungen durch Sensoren zur Zustandsüberwachung ergänzt wird. Nun steht das Unternehmen vor der Herausforderung, anhand der gewonnenen Daten (Aufzeichnungen der Sensoren) skalierbare datenbasierte Dienstleistungen zu entwickeln. In der Folge findet eine Verschiebung vom reinen Produktanbieter zum Produkt-Service-System-Anbieter statt. Die Fachhochschule Graubünden unterstützt Geobrugg im Rahmen eines Innosuisse-finanzierten Forschungsprojekts bei der Frage, wie Industriebetriebe an der Schnittstelle von privat- und öffentlich-rechtlichen Organisationen skalierbare datenbasierte Dienstleistungen entwickeln können, die im internationalen Markt abgesetzt werden.
Installation von Sensorsystemen
Um eine datenbasierte Dienstleistung entwickeln und anbieten zu können, bedarf es Daten. Geobrugg hat mit dem «GUARD» bereits ein innovatives Sensorsystem entwickelt. Der GUARD (zu Deutsch «Wächter») ist ein intelligentes Gerät, dessen Sensorik Umweltdaten und physikalische Daten aufzeichnet und diese per Mobilfunknetz überträgt. Zu diesem Zweck wird der GUARD am Seil einer Steinschlagschutzbarriere befestigt. Erkenntnisse aus diesen Daten sind beispielsweise das Aufzeigen von Steinschlag- und Murgangereignissen oder Korrosion. Die Ereignisdaten werden protokolliert, auf einer Plattform dargestellt und per SMS-Nachricht an die zuständigen Personen gesendet. 31 GUARDs sind im Rahmen des Forschungsprojekts an bestehenden Verbauungen – unter anderem zum Schutz des RhB-Schienennetzes – in Graubünden installiert. Die dafür ausgewählten Schutznetze befinden sich an besonders gefährdeten Stellen. Erst kürzlich hat ein GUARD ein Steinschlagereignis in Brusio gemeldet. Im Bedarfsfall können Schutznetze aufgrund solcher Ereignismeldungen sehr rasch instandgesetzt werden, was im vorliegenden Fall jedoch nicht notwendig war.
Entwicklung einer Dienstleistung anhand eines «Serious Game»
Da die Dienstleistung «Schutz vor Naturgefahren» die Mitwirkung und Koordination der Aktivitäten mehrerer Akteure aus privat- und öffentlich-rechtlichen Organisationen (Ökosystem) bedingt, muss ihre Entwicklung nutzerbasiert erfolgen.
Im vorliegenden Projekt umfasst das wirtschaftliche Ökosystem (Gesamtheit der Akteure) in Graubünden die RhB als Mobilitätsdienstleister und Bauherr (mit dem Ziel, Personen und Gleise zu schützen), das Amt für Wald und Naturgefahren (AWN), das unter anderem Einschätzungen zur Gefahrenlage bietet und die RhB berät, sowie Geobrugg als Herstellerin von Schutzverbauungen und Produzentin des GUARDs. Weitere Akteure wie etwa Bauunternehmen, Fachleute aus den Bereichen Geologie und Forstwirtschaft sowie Planerinnen und Planer unterstützen die Planungs-, Bau-, Unterhalts- und Instandsetzungsarbeiten der Schutzsysteme.
Zentrale Fragen, die mit der Entwicklung der Dienstleistung einhergehen, sind zum Beispiel: Wer ist der Endkunde und wer ist an der datenbasierten Dienstleistung interessiert? Welche Bedürfnisse haben die relevanten Akteure im Ökosystem? Wie beeinflussen die neuen Daten die Aktivitäten dieser Akteure? Welche Daten sind relevant und was ist bei der Datenhoheit zu beachten? Welche Preismodelle sind erwünscht? Wie unterscheiden sich die Bedürfnisse und Auswirkungen der Akteure in Graubünden im Vergleich zum Ausland?
Schnell war ersichtlich, dass es eine Methode braucht, um die Interaktion der Akteure zu visualisieren und dabei insbesondere die einzelnen Bedürfnisse und Aktivitäten sowie die damit verbundenen Auswirkungen innerhalb des Ökosystems darzustellen. Eine Methode, welche diese Anforderung erfüllt, ist das «Serious Game» (zu Deutsch «ernstes Spiel»). Das Ziel eines Serious Game besteht darin, den Spielerinnen und Spielern Inhalte – wie beispielsweise Wissen, Fertigkeiten oder Erfahrungen – durch das Spielen eines Spiels zu vermitteln.
Elemente des Serious Game
Das Serious Game zum Schutz vor Naturgefahren basiert auf einer haptischen Benutzeroberfläche (wie z. B. Monopoly). Die Spielerinnen und Spieler verfolgen das Ziel, gemeinsam eine Reihe von Herausforderungen und Ereignissen bestmöglich zu überstehen, die Liquidität des Ökosystems zu sichern und das Schadenausmass an Menschen und Infrastruktur möglichst gering zu halten. Das übergeordnete Ziel besteht darin aufzuzeigen, dass die Herausforderungen hinsichtlich des Schutzes vor Naturgefahren nur gemeinsam als Ökosystem gelöst werden können und dass Daten hierfür ein hilfreiches Mittel darstellen.
Monatliche Ereigniskarten stellen das Zusammenspiel im Ökosystem auf die Probe und erfordern von den Akteuren jeweils Entscheidungen zur bestmöglichen Bewältigung des Ereignisses. Die Ereignisse umfassen zum Beispiel Steinschlag, Fachkräftemangel, neue gesetzliche Auflagen, die Erschliessung einer neuen Streckenführung – aber auch Cyberattacken. Bei der Bewältigung der Ereignisse werden insbesondere neue Möglichkeiten aufgrund der verfügbaren Sensordaten eruiert, indem datenbasierte Dienstleistungen von und für verschiedene(n) Akteure(n) entwickelt und deren Auswirkung und Nachfrage innerhalb des Ökosystems geprüft wird. Durch die Interaktionen werden die Bedürfnisse, die Aktivitäten und die damit verbundenen Auswirkungen der Akteure ersichtlich und es kann ein gegenseitiges Verständnis aufgebaut werden.
Forschungsseitig hat das Serious Game einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung der Frage geleistet, wie ein Ökosystem datenbasierter Dienstleistungen zu gestalten ist und wie die Auswirkungen solcher Daten «spürbar» gemacht werden können.
Beirag von
Jonas Ahnefeld, Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter, Schweizerisches Institut für Entrepreneurship
Prof. Dr. Patricia Deflorin, Forschungsleiterin, Dozentin, Schweizerisches Institut für Entrepreneurship