Vom Ingenieurstudenten zum Rektor
Das Ingenieurstudium an der ETH Zürich hat mich zeit meines Lebens stark geprägt, sowohl hinsichtlich meiner Arbeitsweise als auch im Bereich der Lösungsfindung. In meinem zweiten Studium – Wirtschaftswissenschaften an der Universität Zürich – habe ich Aufgaben denn auch oft mit Ingenieuransätzen gelöst, und auch heute noch helfen diese mir immer wieder. Weshalb das so ist, werde ich in diesem Artikel in einer persönlichen und anekdotischen Reflexion näher beleuchten.
Text und Bilder: Jürg Kessler
Klischees über Ingenieurinnen und Ingenieure gibt es einige. Die Website des Staufenbiel Instituts, welches Stellen an junge Akademikerinnen und Akademiker vermittelt, hat solche Klischees aufgegriffen und sie als «Mythen» über die Ingenieurwelt auf humorvolle Art beschrieben. So ist etwa von technikverliebten Kopfmenschen, die Zahlen und Darstellungen bevorzugen, die Rede. Und die Kommunikations- oder Teamfähigkeit sowie andere Soft-Skills-Kompetenzen von Ingenieurinnen und Ingenieuren werden infrage gestellt. Mein Studium hat mir viele Erfahrungen mitgegeben, welche diese Aussagen bestätigen oder eben auch widerlegen.
Ich schloss mein Studium als diplomierter Vermessungsingenieur ETH im Jahr 1984 ab. Dieser Studiengang war in vielen Modulen stark an das Bauingenieurstudium angelehnt, weshalb vieles analog übertragen werden konnte. Die Ausbildung war geprägt von Fach- und Methodenkompetenzen in den Bereichen Baustatik und Konstruktion mit den verschiedenen Sparten Tunnelbau oder Siedlungswasserbau, aber auch in Bezug auf das Projektmanagement oder das systemische Denken. Das ist auch heute noch so. Ingenieurinnen und Ingenieure werden in verschiedenen Wissensbereichen ausgebildet, vertiefen sich im Bereich der Analyse und Problemlösungskompetenz, eignen sich aber auch Soft Skills für ihren künftigen Lebens- und Berufsweg an. Dazu gehören Urteils- und Entscheidungsfähigkeit, Teamarbeit, interdisziplinäres Denken, Kommunikationsfähigkeit sowie das lebenslange Lernen neuer Technologien. Ein anwendungsorientierter Ingenieurstudiengang bietet eine gute Möglichkeit, die Kompetenzen aus dem Studium beziehungsweise der Wissenschaft in die Praxis zu transferieren und auch wieder zurück.
Jedes Studium hat einen grossen Wert für die Tätigkeiten, die man im späteren Berufsleben ausübt – in meinem Fall im Hochschulumfeld. Gewisse Aspekte haben dabei eine spezifische Ausprägung. Die Ingenieurwissenschaften sind per se anwendungsrelevant und richten sich auf die Lösung technischer und gesellschaftlicher Herausforderungen aus. Das Denken kann nicht beim Erstellen aufhören, denn der Betrieb und der Rückbau eines Bauwerks sind bereits in der Projektierungsphase mitzudenken. Dies ergibt in der Regel ein «bodennahes» Problemlösen über einen ganzen Lebenszyklus.
In unserer Familie war ich seinerzeit der Erste, der ein Studium in Angriff nehmen wollte. Mein Vater freute sich darüber. Meine Mutter war einem Studium – und speziell gewissen Studienfächern – gegenüber sehr kritisch eingestellt. Sie hatte Bedenken, dass Studieren eher zu brotlosen Berufen führen würde. Als ich ihr jedoch sagte, dass ich Ingenieur werden wollte, war sie sehr glücklich, denn sie ging davon aus, dass dies ein «richtiger Beruf» sei, mit dem sich sicher Geld verdienen liesse. Das stimmt auch heute noch, denn die Berufsaussichten von Ingenieurinnen und Ingenieuren sind ausgezeichnet.
Die intensive Anwendung von Mathematik und Physik waren für mich eine Denkschulung, die ich seitdem in vielen Bereichen einsetzen konnte. In einem Statikkonzept werden die abgeleiteten Kräfte nicht nur in drei Dimensionen, sondern auch über die Zeit analysiert. Dies stärkt die mehrdimensionale Vorstellungskraft, Ereignisse auch über die Zeit zu erfassen. Herausforderungen in diesem Bereich sind stark geprägt durch ganzheitliche und dynamische Prozesse. In Verbindung mit Systems Engineering im Rahmen des Projektmanagements habe ich damals gelernt, komplexe Probleme zu strukturieren und Alternativen daraus abzuleiten, um mich für die potenziell erfolgreichste Variante zu entscheiden. Diese Kompetenzen kamen mir nicht nur in meiner angestammten Tätigkeit zugute, sondern ermöglichten mir immer wieder eine allgemeingültige Vorgehensweise zur Lösung komplexer Situationen – und zwar unabhängig von der Branche. So konnte ich diese Fähigkeit auch während des Notfall- und Krisenmanagements am Flughafen Zürich als Mitglied der Geschäftsleitung oder in den vergangenen Monaten als Rektor der Fachhochschule Graubünden einsetzen. Allgemeine Berufskompetenzen wie diese ermöglichen es somit, Ingenieurinnen und Ingenieure auch weit über ihre Spezialisierung oder Branche hinaus einzusetzen.
Während meines Studiums gab es noch kein Modul «Soft Skills», jedoch wurden uns diese stets in Erinnerung gerufen. So zitierte der damalige Baugeologie-Professor immer wieder Francesco de Sanctis: «Prima die essere ingegneri voi siete uomini» («Bevor ihr Ingenieure seid, seid ihr vor allem Menschen»). Dieser Leitsatz hat mich seither auf meinem ganzen Berufsweg begleitet – als ich mich mit Versicherungsrisiken beschäftigte, aber auch auf der Grossbaustelle des Flughafens oder in der Hochschulwelt. Das Zitat erinnert mich stets daran, dass eine noch so gute Idee oder Lösung nur im Team weiterentwickelt und umgesetzt werden kann.
Ingenieurinnen und Ingenieure sind neugierige Kopfmenschen, die gerne Zahlen, physikalische Zusammenhänge und komplexe technische Probleme lösen. Um in der Wirtschaft erfolgreich zu sein, sollten sie aber zusätzlich über einen breiten Satz an Soft Skills verfügen. Denn damit ihre Ideen umgesetzt werden können, benötigt es stets ein Team, weswegen ein hoher Grad an Kommunikationsfähigkeit vorausgesetzt wird. Ein Ingenieurstudium bereitet die künftigen Fach- und Führungskräfte auf ihren Einsatz in branchenspezifischen Bereichen vor. Es ermöglicht ihnen aber auch eine Karriere in vielen anderen Branchen. Deshalb kann ich nur wärmstens empfehlen, ein Ingenieurstudium in Angriff zu nehmen.
Beitrag von
Prof. Jürg Kessler, Rektor und Vorsitzender der Hochschulleitung