Data Science im Tourismus: von der Analyse zur Vorhersage
Den gläsernen Kunden mögen manche Touristikerin und mancher Touristiker im Auge haben, wenn sie an Data Science denken und nur das Beste für ihre Zielgruppen im Sinne haben. Sie gehen davon aus, dass ihnen der gläserne Kunde die Information liefert, die es ihnen ermöglicht, mithilfe von Machine Learning automatisiert neue und massgeschneiderte Dienstleistungen zu entwickeln. Data Scientists können dabei wichtige Information generieren und die Fachhochschule Graubünden unterstützt den Tourismus diesbezüglich in verschiedenen Bereichen.
Text: Yves Staudt / Bild: FH Graubünden
Data Scientists, zu deren Berufsgruppe auch ich mich zähle, stellen die Schnittstelle zwischen Datenanalyse, Informatik und internem Fachwissen dar. Unser Ziel am Institut für Tourismus und Freizeit ist es, Data Science in die Entwicklung des Tourismus – insbesondere die Entwicklung von Dienstleistungen – einfliessen zu lassen. Im Versicherungswesen, in dem ich lange Zeit tätig war, werden Dienstleistungen für Kundinnen und Kunden schon seit Jahren mithilfe von Daten entwickelt, beispielsweise die individuelle Prämienberechnung. Den gläsernen Kunden, von dem Data Scientists gerne träumen, gibt es in der Realität allerdings nicht oft.
Aus diesem Grund versuchen Data Scientists, die Datenerhebung zu automatisieren. Die Digitalisierung ist da eine grosse Hilfe. So kann man beispielsweise die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit eines Raumes mithilfe eines Raspberry Pi messen. Dabei handelt es sich nicht um einen Himbeerkuchen, wie mich meine Studierenden regelmässig fragen, sondern um einen preiswerten Minicomputer. An diesen Minicomputer kann man Sensoren anschliessen, um die Temperatur und Luftfeuchtigkeit zu messen. Mithilfe dieser Messungen kann man zum Beispiel das «Aufenthaltsgefühl» eines Gastes verbessern. Denn jede Kundin und jeder Kunde hat individuelle Bedürfnisse in Bezug auf die Raumtemperatur.
Entscheidungen datenbasiert treffen
Oft können solche Kundendaten allerdings nicht gänzlich automatisiert erhoben werden. Denn um Kundendaten zu persönlichen Präferenzen und Bedürfnissen zu erheben, braucht es einerseits den Willen und das Einverständnis der betreffenden Personen in Bezug auf die Freigabe ihrer Daten. Andererseits sind Datenspeicherung und Datensicherheit Themen, die dabei ebenfalls bedacht werden müssen. Um dennoch Erkenntnisse zu gewinnen, wird die Kundenzufriedenheit oftmals mithilfe eines Fragebogens erhoben. Diese Methodik wurde beispielsweise im Forschungsprojekt «Robotik in der Hotellerie» des Instituts für Tourismus und Freizeit angewendet, um Daten zur Nutzung und Kundenzufriedenheit in Bezug auf den Einsatz eines humanoiden sozialen Hotel-Roboters zu erheben. Die Erkenntnisse daraus werden für die Hotelbranche so aufbereitet, dass sich ein Hotel mit diesem neu erworbenen Wissen anhand seines Kundensegments dafür entscheiden kann, ob es einen solchen Roboter künftig einsetzen möchte oder nicht. Somit wird die Entscheidung datenbasiert getroffen und der Hotelier investiert nicht ins Ungewisse.
Ein anderes Anwendungsbeispiel einer datenbasierten Dienstleistungsentwicklung wurde im Bereich der Ferienwohnungen umgesetzt. Seit der Coronapandemie boomt die Nachfrage nach Ferienwohnungen: Analysen der Kolleginnen und Kollegen der Fachhochschule Westschweiz (HES-SO) zeigen, dass die Nachfrage im ersten Quartal 2020 um zehn Prozent gestiegen ist. Ferienwohnungen verteilen sich meistens über die ganze Destination und die Reinigungskräfte befinden sich nur selten direkt vor Ort wie bei den Hotels. Viele Zweitwohnungsbesitzer und Destinationsmanager haben sich anlässlich eines Workshops deshalb für die Optimierung der Reinigungseinsätze ausgesprochen und nach besseren Lösungen gesucht. Um die Wohnungen wieder in Stand zu setzen, bevor der nächste Gast kommt, haben das Institut für Photonics und Robotics (IPR), das Institut für Tourismus und Freizeit (ITF) und das Zentrum für Datenanalyse, Simulation und Visualisierung (DAViS) ein Personalallokationstool entwickelt. Dieses Tool übernimmt für die jeweilige Destination oder Agentur die Erstellung des betreffenden Reinigungsplans. Somit konnten mithilfe von Data Science und Informatik der Reinigungsplan automatisiert und der Reinigungsbedarf sowie -zeitpunkt vorhergesagt werden.
Ein Data Scientist nutzt ein Machine-Learning-Modell jedoch nicht nur, um Vorhersagen zu treffen. Versicherungen müssen beispielsweise aus rechtlichen Gründen die Einflüsse der jeweiligen Kundenmerkmale – wie etwa Alter oder Autotyp – auf die individuelle Prämienberechnung erklären können. Diese Methode stellt sich bei Machine-Learning-Modellen, welche als «black boxes» bekannt sind, etwas schwierig dar. In den letzten Jahren wurden viele Funktionen entwickelt, die den Einfluss solcher Merkmale erklären lassen. Bei der Entwicklung des Personalallokationstools ging es den Forschenden der FH Graubünden darum, die Vorbuchungsdauer der Ferienwohnungen zu erfassen und zu erklären. Sie wollten nicht primär anhand von neuen Buchungen die Vorbuchungsdauer vorhersagen, sondern aufzeigen, inwieweit die Merkmale der Wohnungen – wie zum Beispiel die Ausstattung, die Lage und die Saison – die Vorbuchungsdauer beeinflussen. So hat zum Beispiel die Booking.com-Benotung einen Einfluss auf die Vorbuchungsdauer: Die längste Vorbuchungszeit haben demnach Ferienwohnungen mit einem Rating von mindestens 9 von 10 Punkten.
Neue Lösungen dank Hackathons
Um junge Data Scientists auszubilden und viele innovative Ideen partizipativ zu entwickeln, wurden in den letzten Jahren immer mehr Hackathons organisiert. In einem Hackathon stellt ein Betrieb oder eine Gemeinschaft eine oder mehrere Fragestellungen, für die in einem intensiven Innovationsprozess mithilfe bestehender Daten Lösungsansätze entwickelt werden sollen. Während der Tourism Hackdays 2021 wurde beispielsweise versucht, mit anderen «Hackerinnen» und «Hackern» die Frage zur Preiselastizität von Ferienwohnungen auf dem Schweizer Markt zu lösen. Diese misst, wie stark sich der Preis einer Wohnung im Jahresverlauf verändert. Dabei wurde die Erkenntnis gewonnen, dass sich die Preise übers Jahr hinweg wenig verändern. Nur die Lage und weitere Wohnungsmerkmale haben einen Einfluss auf den Preis. Nun gilt es, diese Erkenntnisse zu nutzen, um die Preiselastizität und somit die Anzahl der Vermietungen zu steigern.
Eines der bekanntesten Data-Science-Projekte ist das Dynamic Pricing – flexible Preise, die auf der Nachfrage basieren. Je höher die Nachfrage, desto höher auch der Preis. Diese Art der Preisgestaltung wurde zuerst im Luftverkehr und vor ein paar Jahren auch bei den Bergbahnen angewandt. Mit den Erkenntnissen des Hackathons und zusätzlichen Daten zur Zahlungsbereitschaft der Gäste wird die Erstellung eines solchen Dynamic-Pricing-Modells künftig auch für Ferienwohnungen möglich sein. Dies bringt den Vorteil mit sich, dass die Wohnungen länger und öfter vermietet werden – mit der damit einhergehenden indirekten Wertschöpfung in der Region.
Da der Tourismus auch viele kleine Betriebe umfasst und jeder Betrieb seine eigenen Kundendaten sammelt, ist es wichtig, diese Daten zusammenzuführen. Diese Datenbündelung stellt die meisten Data Scientists vor grosse Herausforderungen. Es gibt jedoch bereits mehrere Lösungsansätze auf regionaler und nationaler Ebene. Wenn die Grundlagen dafür geschaffen worden sind, können Data Scientists die Dienstleistungsentwickler (Service Design Thinker) bei ihren Projekten bald tatkräftig mit datengestützten Resultaten unterstützen.
Beitrag von
Yves Staudt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Data Scientist
Institut für Tourismus und Freizeit sowie Zentrum für Datenanalyse, Simulation und Visualisierung