Optimierung von Wasserkraftprojekten durch den Einbezug von Stakeholdern
Bereits die Planung von Grosswasserkraftanlagen stellt aufgrund der möglichen Auswirkungen auf Mensch und Umwelt eine Herausforderung dar. So gilt es, qualitätsvolle Lösungen zu entwickeln, die den Anforderungen aller Interessensgruppen entsprechen. Die Nachhaltigkeitsbeurteilung stellt ein passendes Instrument zur ganzheitlichen Betrachtung der Auswirkungen eines Projekts dar und hilft, die Grundsätze der Nachhaltigen Entwicklung zu berücksichtigen.
Text: Marc Herter / Titelbild: Murdockcrc (Wikimedia) / Grafiken: Marc Herter
Als bedeutendste inländische Energiequelle ist die Wasserkraft ein zentraler Grundpfeiler der Energiestrategie 2050 des Bundes und der lokalen Wirtschaft vieler Alpentäler. Sie generiert Einkommen und Beschäftigung sowie Wasserzins- und Steuereinnahmen in Kantonen und Gemeinden, steht aber gleichzeitig auch vor neuen Herausforderungen. Diese sind unter anderem durch Nutzungskonflikte bei den Land- und Wasserressourcen, mangelnde Rentabilität bei tiefen Strompreisen, den Klimawandel und die anstehenden Erneuerungen der Wasserkraft-Konzessionen sowie energie- und umweltpolitische Rahmenbedingungen bedingt. Zugleich muss die Wasserkraft, der im Rahmen der Energiestrategie 2050 eine zentrale Bedeutung zukommt, einen Beitrag ans Verfassungsziel der Nachhaltigen Entwicklung liefern.
Dementsprechend erfordert die Beurteilung von Wasserkraftprojekten eine umfassende Betrachtung der vielfältigen Auswirkungen eines Vorhabens auf Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft. Dazu ist neben einer technisch-wissenschaftlichen Beurteilung auch eine Bewertung der Zielkonflikte aus Sicht der betroffenen Anspruchsgruppen erforderlich. Hier hatte das Projekt «HP Sustainability» der FH Graubünden angesetzt, welches sich als Teil eines grösseren Forschungsverbunds im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP70 «Energiewende» mit regionalwirtschaftlichen Aspekten und einer integrierten Nachhaltigkeitsbeurteilung (NHB) der Wasserkraft beschäftigte. Als Fallstudie wurde dabei das Projekt «Lagobianco» untersucht, welches aus einer intensiven Zusammenarbeit mit verschiedenen Interessensgruppen entstanden war und deshalb von besonderem Interesse ist. In diesem Zusammenhang wurde der Stakeholderprozess analysiert und eine erste NHB in Zusammenarbeit mit Experten sowie zusätzlichen Stakeholdern erstellt.
Wasserkraftnutzung im Puschlav
Aufgrund seiner topographischen Eigenschaften eignet sich das Puschlav sehr gut für die Nutzung der Wasserkraft zur Stromerzeugung. So wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kraftwerke Brusio AG (heute Repower AG) gegründet, die zunächst in Campocologno den Abfluss des Lago di Poschiavo und danach auch – mittels Staumauern – den Lago Bianco auf dem Berninapass für die Wasserkraft nutzbar machte. Hinzu kamen in weiteren Etappen auch die Nutzung des Flusses Poschiavino und die Erneuerung sowie der Ausbau der bisherigen Anlagen.
Der Ursprung des heutigen Projekts «Lagobianco» liegt über 30 Jahre zurück und beginnt mit den ersten Plänen für einen Grossausbau der Kraftwerkanlagen (vgl. Abb. 1). Schon bevor die Konzessionen für die Nutzung der Gewässer zur Stromproduktion im oberen Puschlav Ende 1997 ausliefen, gab es Pläne zur Erneuerung bzw. zum Ausbau der bestehenden Anlagen, die damals aus ökonomischer Sicht sehr rentabel erschienen. So entstand das Ende 1994 vorgestellte «Konzessionsprojekt 95 (KP 95)» der damaligen Rätia Energie AG. Kern dieses Projekts waren neben der Konzessionserneuerung insbesondere der Ausbau des Speichersees Lago Bianco mit einer geplanten Erhöhung der Staumauer um 17 Meter sowie die verstärkte Nutzung der Anlagen im Winter.
Widerstand gegen den Ausbau der Wasserkraftanlagen
Trotz Umweltverträglichkeitsprüfung entstand ein zunehmender Widerstand seitens der Umweltverbände gegen dieses Projekt. Deren Beschwerde wurde zwar erstinstanzlich vom Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden abgelehnt, dann aber ans Bundesgericht weitergezogen. Zunächst schien das Projekt somit vollständig blockiert, ehe die Schweizerische Greina-Stiftung einen «runden Tisch» vorschlug, um möglicherweise aussergerichtlich zu einem Kompromiss zu kommen.
Gemeinsam im Dialog eine Lösung finden
So kam es zu einem partizipativen Prozess, in dessen Verlauf eine neu konstituierte, interdisziplinäre Arbeitsgruppe die technischen, ökologischen und wirtschaftlich relevanten Aspekte gemeinsam untersuchte, optimierte und in einer Machbarkeitsanalyse festhielt. Da sich alle Beteiligten des engen Zeitplans und der möglichen Folgen eines Scheiterns bei dieser aussergerichtlichen Übereinkunft bewusst waren, entwickelte sich eine konstruktive und lösungsorientierte Arbeitshaltung. In nur sechs Monaten – zwischen November 2008 und April 2009 – wurde der Projektplan komplett überarbeitet. Daraus resultierte das heutige Projekt «Lagobianco», welches für alle beteiligten Parteien eine zufriedenstellende Lösung darstellte. Das Verfahren vor dem Bundesgericht wurde daraufhin von den Umweltverbänden zurückgezogen.
Auf das neue Projekt «Lagobianco» können alle beteiligten Interessensgruppen stolz sein, denn niemand hat dabei das Gesicht verloren. Für die Umweltverbände wurde es zu einem Leuchtturmprojekt, konnte man sich doch aufgrund mangelnder Rücksichtnahme auf die negativen Umwelteinflüsse erfolgreich gegen ein von der Regierung bereits bewilligtes Grossinfrastrukturprojekt wehren. Doch auch für die Repower AG war dieses gemeinsame Vorgehen ein Erfolg, da die konstruktive Zusammenarbeit die soziale Akzeptanz des neuen Projekts erhöhte.
Erfolgreicher Stakeholder-Prozess
Der Erfolg dieses Stakeholder-Prozesses von 2008/2009 kann auch anhand der im Rahmen des laufenden NFP70-Projekts durchgeführten NHB betrachtet werden. Diese verdeutlicht die «Optimierung» des Projekts durch den Stakeholder-Dialog. Wie in Abb. 2 und Abb. 3 veranschaulicht, wurden die Auswirkungen auf die meisten Kriterien und Teilbereiche damals positiv bewertet. Sie erscheinen also mehrheitlich in grüner Farbe, insbesondere für die Betriebsphase. Mit negativen Auswirkungen ist hauptsächlich im Umweltbereich, während der Bauphase, zu rechnen.
Abb. 2: Während der Bauphase sind aufgrund der Bautätigkeiten negative Umwelteinflüsse zu erwarten. Diese Zeit bringt jedoch auch zusätzliches Kapital in die Region: Investitionen in die Infrastruktur sowie zusätzliche (temporäre) Bewohner, die auf der Baustelle arbeiten und ebenfalls versorgt werden müssen. (Grafik: Marc Herter)
Abb. 3: Die Beurteilung der Betriebsphase fällt ausnahmslos neutral oder positiv aus. Im überarbeiteten Projekt wurden sämtliche Umweltbedenken, die zuvor geäussert worden waren, miteinbezogen. Regionalwirtschaftlich wird die Betriebsphase ebenfalls von Bedeutung sein, da neue Stellen im Betrieb und Unterhalt geschaffen werden. (Grafik: Marc Herter)
Die Geschichte des Projekts «Lagobianco» und die Resultate der nachträglich durchgeführten NHB veranschaulichen den Beitrag eines sorgfältig durchgeführten Stakeholder-Dialogs in Bezug auf die Verbesserung wirtschaftlich wichtiger, doch gesellschaftlich umstrittener Bauvorhaben. Der frühzeitige Einbezug der Stakeholder kann massgeblich zu einer Qualitätssteigerung während der Planung und letztlich auch zu einer Erhöhung der Akzeptanz eines Vorhabens beitragen.
Anmerkung zu den Abbildungen: Zwischenauswertung der NHB zum Projekt «Lagobianco» auf Teilbereichsebene. Die Skala für die Beurteilung liegt bei [-3, 3] und gibt an, ob im jeweiligen Teilbereich insgesamt negative (rot) oder positive (grün) Veränderungen zu erwarten sind. Da die einzelnen Teilbereiche aus unterschiedlich vielen Indikatoren und Kriterien zusammengesetzt sind, sind die aggregierten Werte indexiert, um sie vergleichbar zu machen. (Die Beurteilung wurde zwei Ebenen tiefer – auf Indikatorebene – durchgeführt. Für die Aggregation wurden die einzelnen Indikatoren und Kriterien auf dieser Stufe der Analyse gleichgewichtet.)
Regionalwirtschaftliche Auswirkungen und Nachhaltigkeitsbeurteilung von Wasserkraftprojekten
Forschende der FH Graubünden untersuchen im Auftrag des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) die regionalwirtschaftlichen Aspekte der Wasserkraft und führen eine integrierte Nachhaltigkeitsbeurteilung von Wasserkraftanlagen im Rahmen des nationalen Forschungsprogramms NFP 70 «Energiewende» durch.
Beitrag von
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Zentrum für wirtschaftspolitische Forschung (ZWF)