Der beste Standortfaktor? – Die Besinnung auf eigene Werte!
Jeder wünscht sich ein attraktives Lebensumfeld, insbesondere für den Urlaub. In Graubünden sind die Landschafts- und Siedlungsqualität somit ein wichtiger Standortfaktor für die Wirtschaft und den Tourismus. Wie die historisch wichtigen Dorfkerne in den meist noch ländlich wirkenden Gemeinden trotz Globalisierung der Bautätigkeit, trotz Baulandstopp und innerer Verdichtung erhalten bleiben können, zeigt das Bündner Dorf Scharans. Mit starker Partizipation der Bevölkerung werden die vorhandenen Obstwiesen im Siedlungsgebiet durch Auszonung geschützt; diese Fläche wird im Landumlegungsverfahren im Weiler St. Agatha, wo eine verdichtete Bauweise zulässig ist, wieder hinzugefügt.
Text: Sandra Bühler-Krebs, Prof. Christian Wagner / Bilder: Sandra Bühler-Krebs, Reto Gmühr, Maria Rota
Hohe Berge, gepflegte Landschaften und idyllische Dörfer prägen das weithin bekannte Bild Graubündens. Doch dieses Image bröckelt. Baulandflächen-Nutzungsstopp und Innenverdichtung sind aktuelle Zielsetzungen der Schweizer Raumplanung. Was in der Agglomeration unbestritten Sinn macht, beschert vielen ländlichen Gemeinden berechtigte Sorgen. Oft stehen locker bebaute historische Dorfkerne mit denkmalgeschützten Wohn- und Stallbauten und innerdörflichen Gärten für die Identität eines Ortes, sind jedoch im übergeordneten Flächennutzungsplan als Baugebiet vermerkt. War dies vor zwei Jahrzehnten noch durchaus nachvollziehbar, hat sich die Problematik der Globalisierung in der Architektur seit einigen Jahren derart verschärft, dass sich lokale Werte und ortsspezifische Identitäten als touristischer Faktor – und somit immer wertvollerer wirtschaftlicher Faktor – herauskristallisieren.
Eine Gästebefragung des Instituts für Tourismus und Freizeit (ITF) der FH Graubünden aus dem Jahr 2013 hat dies bestätigt: 51 Prozent der Befragten gaben das Ortsbild als wichtiges Entscheidungskriterium bei der Wahl des Reiseziels an und für 96 Prozent ist es von grosser Relevanz, um sich am Ferienort wohl zu fühlen. Wichtige Faktoren sind dabei die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum, die Mischung von traditionellen und neuen, authentischen Bauformen, die Beziehung zur Landschaft und die einheimische Baukultur. Nicht kitschige Landhauskulissen sind gefragt, sondern ein Einblick ins «echte» Leben in den Bergen. Naheliegend ist daher die These, dass sich die Gäste dann wohlfühlen, wenn sich auch die lokalen Bewohnerinnen und Bewohner mit ihrem Lebensumfeld identifizieren. Wir sprechen hier von Authentizität und meinen die Lebens- und Arbeitsweise vor Ort, die sich in direkter Weise auf die gebaute Umwelt übertragen.
Baukultur in Zeiten des Wandels
Doch was bedeutet «Baukultur» in den sich verändernden Dörfern? Der berühmt-berüchtigte Satz «Architektur ist Geschmackssache» würgt bereits jede inhaltliche Diskussion über unsere gebaute Umwelt im Keim ab. Dabei geht gerne vergessen, dass der «Geschmack» gar nicht der springende Punkt ist. Fakt ist, dass Bauen und Gestalten ein Akt des öffentlichen Interesses sind und uns alle als Gemeinschaft betreffen. Oft fehlt das Bewusstsein in der Bevölkerung, dass die Planung und Realisierung eines Bauwerks als gesellschaftliche Handlung – und der Architekturdiskurs als die damit verknüpfte Reflexion – in einem moralphilosophischen Kontext stehen. Schliesslich tangiert genau dieses Handeln die Gesellschaft besonders stark und prägt ihren Lebensraum. Baukultur, und damit verknüpft das Ortsbild, ist folglich der gebaute Spiegel der gesellschaftlichen und moralischen Wertvorstellungen im politisch-wirtschaftlichen Gefüge.
Bauvorhaben führen immer zu Veränderungen des Dorfbildes. Das Wiederfinden von vertrauten Bildern – also sich trotz Weiterentwicklung noch «zu Hause» zu fühlen – ist ein zentraler Aspekt und ist Aufgabe der Kommunen. Sind sich die Gemeinden dieser Verantwortung bewusst, so entsteht grosse Unsicherheit insbesondere bei der Umsetzung des kommunalen räumlichen Leitbildes. Wird die Vision in der Nutzungsplanung konkretisiert, agiert die Gemeinde meist auf privatem Grund. Die moralisch geprägten Forderungen des Leitbildes sind nur dann zu erfüllen, wenn die geplante Änderung ein positives Ergebnis an der Urne erzielt. Des Menschen ureigenes Streben nach persönlichem Wohlstand – wie auch der gegenseitige Neid – lässt diese Projekte oftmals scheitern. Folglich ist es, nebst den Vorteilen für das Dorf, von elementarer Bedeutung, dass jede/jeder direkt betroffene Eigentümerin/Eigentümer auch einen persönlichen wirtschaftlichen Vorteil in dieser Planung sieht.
Ein konkretes Beispiel aus Graubünden kann an dieser Stelle möglicherweise dazu beitragen, die Gemeinden zu ermutigen, neue Wege in der Raumplanung zu gehen und eine Zukunftsvision zu erarbeiten, die sowohl für die Einheimischen wie auch für die Gäste gleichermassen sinnstiftend ist.
Erfolgreiches Landumlegungsverfahren an der Urne
Das Dorf Scharans liegt im Bündnerischen Domleschg, das durch Obstwiesen geprägt ist. Der touristisch wirksame Wanderweg «Veia da pumera» verdeutlicht diese Tradition. Die Bedeutung für die heimische Wirtschaft und die Erinnerung an diese jahrhundertealte Tradition sind noch heute in den Obstwiesen innerhalb des Dorfgefüges sichtbar. Im neuen Verständnis der Baulandpolitik gelten diese Flächen als gehortetes Bauland und können bzw. sollen zugunsten einer kompakten Siedlungsstruktur bebaut werden. Fachleute der FH Graubünden wiesen auf die drohende Gefahr hin, dass durch das Verschwinden dieser Wiesenflächen und den Bau von mittelmässigen Neubauten das ursprüngliche Dorf und seine vorhandene «Schönheit» zerstört würden.
Die Planung in Scharans zeigt eine ortsspezifische Interpretation von baulicher Verdichtung im ländlichen Raum. Die Wiesenflächen im Siedlungsgebiet wurden durch Auszonung geschützt. Im Landumlegungsverfahren wurde Bauland an anderer Stelle, wo eine zusätzlich verdichtete Bauweise Potenzial hat, eingefügt. Nur durch die Offenheit von Behörden und Bevölkerung für eine «ethische» Reflexion, das daraus resultierende Verständnis für Baukultur und die Bereitschaft, sich auf einen entsprechenden Diskurs einzulassen, wurden Abweichungen vom üblichen Verfahren überhaupt erst möglich. Eine umfassende Partizipation aller Interessengruppen, die Einverständniserklärung der Eigentümerinnen und Eigentümer nach dem Aufzeigen von individuellen Vorzügen und die Mehrheitsfähigkeit der vorgeschlagenen Massnahmen bildeten die basis-demokratisch notwendige Voraussetzung für die umfassenden Veränderungen in der Nutzungsplanung. Diese ermöglicht schlussendlich den Erhalt von architektonischen, siedlungsplanerischen und denkmalpflegerischen Werten, einen baukulturellen Umgang mit Bauland und Baubestand sowie die Stärkung eines Dorfteils zu einem eigenständig funktionierenden Weiler mit den erforderlichen Entwicklungsflächen für die kommende Generation. Die entsprechenden raumplanerischen Verfahren und die politische Vorgehensweise innerhalb der direkten Demokratie sind wenig erprobt und faktisch Neuland. Die Belohnung für solch neuartige Prozesse ist praktisch immer eine weitreichende, auch touristische Beachtung – und Stolz auf das eigene Dorf. Die Scharanser Bevölkerung hat diesen Schritt gewagt und im Oktober 2017 mit grosser Mehrheit dem Landumlegungsverfahren an der Urne zugestimmt.
Beitrag von
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Bauen im alpinen Raum (IBAR)
Professor für Architektur, Institut für Bauen im alpinen Raum (IBAR)