Interaktives Seminar auf Distanz – geht das?
Um das Resultat gleich vorwegzunehmen: Ja, das geht. Die FH Graubünden beweist, dass interaktive Seminare auf Distanz sogar eine Bereicherung für Studierende und Dozierende sein können. Der Versuch wurde im Bachelor-Studiengang Information Science vorgenommen. Wie kann ein Seminar, das im Wesentlichen von Präsentationen und Diskussionen von und mit allen Beteiligten lebt, mit örtlich verteilten Studierenden durchgeführt werden?
Text: Prof. Bruno Wenk / Bild: Yvonne Bollhalder
Unterricht mit zeitlicher Präsenz, aber örtlich verteilten Studierenden führt die Bündner Fachhochschule schon seit einigen Jahren in verschiedenen Studiengängen erfolgreich durch. Das Konzept heisst «Distributed Classroom». Die Lehrkraft und die Mehrheit der Studierenden treffen sich in einem Unterrichtszimmer in Chur. Die übrigen Studierenden nehmen mit ihren Laptops von irgendeinem Ort aus über das Internet am Unterricht teil. Die Kommunikation auf Distanz wird durch das Programm Adobe Connect unterstützt, das SWITCH (die Stiftung zur Förderung des Einsatzes von innovativen ICT-Technologien und Internetdiensten in der Schweizer Hochschulgemeinschaft) als Internetdienst «SWITCHinteract» zur Verfügung stellt.
Der Dozent resp. die Dozentin und die Studierenden benötigen für die Nutzung des Dienstes lediglich einen Browser. Die Lehrkraft schliesst an ihren Laptop zusätzlich eine Kamera und ein externes Mikrofon an, damit die verteilten Studierenden sie sehen und hören können. Der Unterrichtsverlauf entspricht «traditionellem» Präsenzunterricht. Phasen mit Inputs der Lehrkraft wechseln mit Phasen, in denen die Studierenden einzeln oder in Gruppen an Aufgaben arbeiten. Die verteilten Studierenden können der Lehrkraft via Chatfenster Fragen stellen oder Bemerkungen einbringen.
Gemeinsamer «Schreibblock»
Ein Seminar erfordert mehr Interaktion zwischen den Studierenden untereinander sowie zwischen den Studierenden und der Lehrkraft. Wie könnte der beschriebene Unterricht auf Distanz interaktiver gestaltet werden? Im Bachelor-Studiengang Information Science wurde das interdisziplinäre Seminar zum Thema «Das Potenzial von Linked (Open) Data» zeitgleich mit Studierenden in Zürich und Chur durchgeführt. Prof. Dr. Niklaus Stettler, Professor für Archivwissenschaft und Records Management sowie Leiter des Schweizerischen Instituts für Informationswissenschaft SII, traf sich mit den berufsbegleitend Studierenden in einem Unterrichtszimmer in Zürich und meldete sich – ausgerüstet mit Laptop, Kamera und Mikrofon – im Distributed Classroom an. Derselbe Vorgang war zeitgleich auch in Chur zu beobachten, wo sich Prof. Bruno Wenk, Professor für Multimedia-Kommunikationssysteme, mit den Vollzeit-Studierenden in einem Raum befand. Mit diesem Set-up konnten sich alle Anwesenden sehen und hören.
Zusätzlich zu SWITCHinteract nahmen die Lehrkräfte einen gemeinsamen «Schreibblock» (Englisch: «pad») in der Cloud zu Hilfe. Konkret wurde das Pad der Open Knowledge Foundation genutzt. Darin konnten sowohl die Studierenden in Zürich als auch jene in Chur gleichzeitig Fragen, Antworten, Bemerkungen und Entgegnungen schriftlich festhalten.
Vorteil dokumentierte Diskussion
Die Schriftlichkeit des Austauschs im Pad hat gegenüber der mündlichen Kommunikation im Distributed Classroom viele Vorteile. Während beim mündlichen Austausch die akustische Verständlichkeit häufig ein Problem darstellt – vor allem, wenn sich alle Studierenden an einer Diskussion beteiligen sollen – sind im Pad Nachfragen nur nötig, wenn eine Frage oder Bemerkung inhaltlich nicht verständlich genug formuliert ist. Die Schriftlichkeit ermöglicht auch eher, über passende Antworten oder Entgegnungen gründlich nachzudenken; beim mündlichen Austausch ist der Druck, rasch antworten zu müssen, oft übermässig gross.
Schliesslich kann der Text im Pad am Ende des Unterrichts auf der Lernplattform gespeichert werden. Die schriftliche Zusammenarbeit im Pad ist allerdings unpersönlicher als ein Austausch, bei dem sich die Beteiligten hören und sehen. Das empfanden die Studierenden aber nicht als gravierenden Nachteil: «Persönlichen Austausch pflegen wir innerhalb der Klasse. Zwischen den Klassen in Chur und denjenigen in Zürich besteht kaum Kontakt, deshalb vermissen wir ihn in diesem Seminar auch nicht.» Die Studierenden und die Lehrkraft können im nächsten Unterrichtsblock daran anknüpfen und den Austausch noch einmal reflektieren.
Das erweiterte Konzept des Distributed Classroom wurde bereits in einer anderen Lehrveranstaltung des Bachelor-Studiengangs Information Science übernommen. Auch die weiteren einzigartigen Studiengänge der FH Graubünden, an denen Studierende aus der ganzen Deutschschweiz teilnehmen, werden diese interaktive Form des Lehrens auf Distanz vermehrt nutzen.
Beitrag von
Bruno Wenk, Prof.
Professor für Multimedia-Kommunikationssysteme, Institut für Photonics und ICT (IPI)