Das historische Dorf von Morgen
Baukultur, Denkmalschutz und ortsbauliche Visionen in der direkten Demokratie sind heute ohne institutionelle Beteiligungsprozesse und professionelle Kommunikation chancenlos. Das Institut für Bauen im alpinen Raum IBAR involvierte Jung und Alt, um den Spagat zwischen Schutz und Weiterentwicklung der Gemeinde Mels zu erreichen.
Text: Sandra Bühler, Prof. Christian Wagner / Bild: Sandra Bühler, Maria Rota, Gemeinde Mels
Umgeben von hektischen Shopping-, Event-, Autoverkaufs- und Fitnesszentren, stellen die historischen Dorfkerne auch heute noch die mit dem Begriff «Heimat» verknüpften, identitätsstiftenden Pole innerhalb der grossflächig gewachsenen Siedlungen und Agglomerationen dar. Die Globalisierung in der Architektur – hervorgerufen unter anderem durch weltweit identische Fabrikation von Bauteilen und gesamtschweizerisch sehr ähnlichen Baugesetzgebungen – führt zu monotonen Verstädterungsprozessen sowie sich überall gleichenden Siedlungserweiterungen. Historisch gewachsene, mit lokalen Baustoffen in örtlicher Bauweise errichtete, alte Gebäude werden mit ihrem einzigartigen Ausdruck und ihrer spezifischen Stimmung immer wichtiger für die Identität eines Dorfes.
Die schnelle und intensive Bautätigkeit der letzten Jahre fördert nicht nur die Zersiedelung, sondern gefährdet in zunehmendem Masse auch die Dorfkerne. Das neue Raumplanungsgesetz mit seinem Ruf nach verdichtetem Bauen verschärft zusätzlich den Druck nach innen. Das hat zwar positive Auswirkungen auf den Erhalt von Kulturland. Es gefährdet aber gleichzeitig unsere gebaute Kultur im Siedlungs-kern. Es erstaunt, dass denkmalpflegerische Überlegungen oft als entwicklungs-hemmend empfunden werden – wenn auch meistens nur dann, wenn es das eigene Bauvorhaben betrifft. Beim Nachbarn hingegen ist der Abbruch «total schade»!
Leben bedeutet Veränderung und Erneuerung. Dies gilt auch für die Dorfkerne. Wie können diese weitergebaut oder erneuert werden? Was sind die ortstypischen Merkmale, die Identität bilden und an denen sich Neu- und Umbauten orientieren können? In der Praxis offenbart sich ein Ermessensspielraum. Und nicht selten wird dieser von Bauherrschaften als Willkür empfunden. Wie und mit welchen Instrumenten kann diesem Willkürvorwurf begegnet werden?
Baumemorandum Mels als Orientierungshilfe
Das Dorfzentrum ist in den meisten Fällen das Aushängeschild der Gemeinden und gleichzeitig das historische Zentrum. Als Zentrum funktionieren und erhalten bleiben kann der Ortskern allerdings nur, wenn auch die Funktionen des Dorfkerns erhalten bleiben. Gemeindeverwaltung und eine funktionierende, belebte Erdgeschosszone sind wichtige Garanten für die Zentrumswirkung und die Belebung der öffentlichen Strassen und Plätze. In Mels soll das Zentrum geschützt werden. Das bedeutet, dass die Zentrumsfunktionen erhalten und gestärkt werden sollen. Ein neues Kulturzentrum für die Gemeinde als Magnet für die Umgebung und der Erhalt der Landi im Dorfkern als wichtige zentrale Einkaufsmöglichkeit verursachen grosse bauliche Veränderungen im historischen Dorfkern.
Im Dorfplan von Mels sind die laufenden und geplanten Bauvorhaben rot markiert und illustrieren die enorme Veränderung im Dorfzentrum. In Kombination mit weiteren Neubauvorhaben lösen die laufenden Projekte heftige Diskussionen in der Bevölkerung aus. Die Angst vor der Entleerung des historischen Dorfkerns einerseits und die Skepsis gegenüber den neuen baulichen Veränderungen andererseits zeigen deutlich das Spannungsfeld zwischen Schutz und Weiterentwicklung.
Für die Gemeinde Mels wurde ein neuartiges Planungsinstrument als Orientierungshilfe für Bauherren, Planerinnen/Planer und die Behörden entwickelt. Während der Denkmalschutz vor allem einzelne Objekte schützt, versucht das «Baumemorandum Dorfkern Mels» die vorhandene Gesamtwirkung und die Identität zu erfassen. Neubauprojekte sollen sich an historischen Merkmalen und Gestaltungsprinzipien wie z. B. Arkaden, Strassenraumprofil, Rhythmus und Grösse von Fensteröffnungen, Symmetrie und/oder Dreiteiligkeit in der Fassadengestaltung, Materialien etc. orientieren können, ohne ganz auf eine eigenständige, zeitgemässe Architektur verzichten zu müssen. Das Arbeitsinstrument in Planform ist schnell verständlich und auch für Laien einfach nachvollziehbar. Es kann mithelfen, eine eigentliche Form von «Melser Authentizität» zu schaffen.
Dorfentwicklung aus Kinderaugen
Die Entwicklung der Städte und Dörfer ist derzeit hauptsächlich eine Domäne der Erwachsenen. In Mels waren die Ideen der Kinder gefragt. In enger Kooperation mit der Gemeindebehörde und der Schulverwaltung entwickelte das Institut für Bauen im alpinen Raum IBAR der FH Graubünden einen Architekturwettbewerb für Kinder. Unter dem Motto «Mein Dorfplatz im Jahr 2040 – Wie ich mir das Melser Dorfzentrum zu meinem 40. Geburtstag wünsche» erarbeiteten die Schulklassen der Primar-, Real- und Sekundarschule sowie die Kindergärten ihre Entwicklungsvisionen für den Dorfkern.
Zu jedem Wettbewerb gehört auch ein Modell. Ein eigens zu diesem Zweck entwickelter Faltbogen wurde in den Schulklassen in Gruppenarbeit ausgeschnitten, gefaltet und geklebt. Er zeigt den Dorfkern mit den zukünftigen Veränderungen und dem geplanten Kulturzentrum. Die Kinder entwickelten mit den Klassenlehrpersonen neue Ideen zur Belebung des Dorfplatzes und bastelten diese Interventionen in das gefaltete Dorfmodell hinein. Mit einem zusätzlichen Plakat illustrierten sie die Vorschläge.
Beteiligt waren ca. 800 Schülerinnen und Schüler aus Mels. Eine Dorfplatzsperrung an zwei Tagen ermöglichte eine Ortsbegehung durch die Kinder und Jugendlichen. Nach der Bearbeitung in den Klassen fand die Jurierung der Wettbewerbsbeiträge am Tag der Bürgerinformation statt. Am Vormittag jurierten die Schülerinnen und Schüler die Arbeiten selbst und am Abend entschieden die Erwachsenen über die Wahl der Siegerprojekte. Die Dorfentwicklung war für alle Kinder ein fester Bestandteil der ersten Schulwochen. Neben den Lehrpersonen wurden auch die Eltern am Mittagstisch in die Überlegungen der Kinder involviert. Mit diesem Wettbewerb konnte ein Grossteil der Bevölkerung auf das Thema der zukünftigen Entwicklung des Dorfkerns sensibilisiert werden. Der anschliessende Bürgerinformationsabend war mit 700 bis 800 Personen dementsprechend gut besucht.
Siedlungsentwicklung als partizipativer Prozess mit der Dorfbevölkerung
Vertrauen ist ein wichtiges Kriterium, auch bei der Förderung einer gemeinsamen Baukultur. Die Einwohnerinnen und Einwohner möchten darauf vertrauen, dass die Gemeinde im Sinne einer nachhaltigen Weiterentwicklung handelt. Viele aktuelle Verfahren finden in der stillen Kammer hinter verschlossenen Türen statt. Die Öffentlichkeit kann sich zwar in der Presse informieren, kann jedoch die Beweggründe für Veränderungen oftmals nicht nachvollziehen. Die derzeit sehr starken Veränderungen im Melser Dorfkern sind im Gange und noch lange nicht abgeschlossen. Ein Gebäude-Abbruch nach dem anderen verunsichert die Bevölkerung.
Die Durchführung einer aufwändigen Bürgerinformation spezifisch zu Baufragen im Dorf trug wesentlich dazu bei, die Skepsis der Melserinnen und Melser gegenüber der Gemeinde zu reduzieren. Diverse Bauprojekte, Strassengestaltungen und Planungsinstrumente wurden der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Projekte, auf grossen Tafeln dargestellt, konnten mit den zuständigen Fachplanern und -planerinnen sowie den Gemeindeverantwortlichen diskutiert werden. Die Akzeptanz dieser Projekte seitens der Bewohnerinnen und Bewohnern wurde mit einem Fragebogen und diversen anderen Methoden direkt abgefragt. Alle konnten zu jedem Thema ihre Meinung schriftlich, graphisch oder mündlich äussern. Auf dieser Grundlage sind weiterführende Überlegungen zur Entwicklung des Dorfkerns im Sinne der gesamten Bevölkerung möglich und die Gemeinde kann sich gestärkt zukünftigen Entwicklungsthemen widmen.
Beitrag von
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Bauen im alpinen Raum IBAR
Professor für Architektur, Bereichsleiter Ortsbildentwicklung und Siedlungsplanung, Institut für Bauen im alpinen Raum IBAR